Porträt der Woche

»Ich liebe diese Sprache«

»Früher bin ich jeden Freitag in die Synagoge gegangen, heute tue ich es nicht mehr regelmäßig«: Irina Bolschakowa Foto: Maik Ehrlich

Wer nicht Der Untertan gelesen hat, kann die Deutschen nicht verstehen. Das sage ich seit Langem. Vor vielen Jahren in Moskau ist mir dieses Buch von Heinrich Mann in die Hände gekommen. Und ich habe immer noch das Gefühl von Trauer, wenn ich daran denke, dass ich dieses Buch verliehen und nicht wiederbekommen habe. Ich bin ins Antiquariat gegangen und habe mir ein neues gekauft. Da hatte wohl jemand Deutsch gelernt und ganz viele Wörter hineingeschrieben. Ich habe sie tagelang vorsichtig wieder herausradiert. Ich konnte diese Notizen einfach nicht ertragen.

Deutsch ist in meinen Ohren eine wunderbare Sprache. Ich weiß nicht, warum ich sie so liebe. Vielleicht hat das mit meiner Kindheit zu tun: 1946, ich war gerade mal zwei Jahre alt, ging mein Vater mit uns nach Deutschland, weil er im Außenhandelsministerium arbeitete. Zwei Jahre lang waren wir da. Wir hatten ein deutsches Kindermädchen. Ich konnte ein bisschen Russisch und ein bisschen Deutsch. Später, als wir wieder zurück in der Sowjetunion waren, hat mein Bruder manchmal gesagt: »Ich habe eine kalte Nase.« Heute spricht er kein Wort Deutsch mehr. Schade.

Nach meinem Abitur wollte ich in Moskau Germanistik studieren. Doch die Konkurrenz war groß. Auf einen Studienplatz kamen 30 Bewerbungen. »Du brauchst eine Privatlehrerin, die dich vorbereitet, sonst wird das nichts«, sagte meine Mutter. Ein Jahr lang habe ich Unterricht genommen, und dann bekam ich den Studienplatz.

In Moskau hatte ich Glück. Eigentlich sollte ja in meinem Pass »Jüdin« stehen. Doch die Dame am Schalter fand meinen Namen viel zu russisch. Laut Geburtsurkunde waren meine Mutter Jüdin und mein Vater Russe. Ich wollte, dass die Beamtin »Jüdin« schreibt. Doch sie trug einfach »Russin« ein. Es stimmte ja beides. Vielleicht wollte sie mich schützen, ich weiß es nicht. Mein Nachname ist der meines Vaters. Und russischer geht es wirklich nicht. Ich war als Jüdin also »ordentlich verpackt«.

Familie Großmutter stammte aus einem Schtetl in der Nähe von Odessa in der Ukraine. Russisch hat sie nur mit starkem Akzent gesprochen. Am liebsten redete sie Jiddisch. Alle haben sie Golde gerufen. Auch mein Großvater. Und Odessa, für ukrainische Verhältnisse ein richtiges Provinznest, war für meine Oma die große weite Welt – jedenfalls bis zum Zweiten Weltkrieg. Kurz nachdem meine Großeltern nach Leningrad übergesiedelt waren, begann die Blockade. Nur deshalb haben sie überlebt. Sie waren eingeschlossen und hatten noch einmal Glück. Sie sind nicht verhungert. All die anderen aus der Familie sind ermordet worden.

Es gibt keine Zufälle. Meine Mutter hat in Leningrad studiert, der Dekan der Uni war Jude. Er hat meine Mutter nach Moskau zur Arbeit geschickt. Oma und Opa kamen nach der Blockade nach Taschkent und später nach Moskau. Vom Schtetl nach Moskau, das ist ein gewaltiger Sprung. Aber meine Großmutter war stark, sie wollte in Moskau ankommen. Sie hat mich großgezogen, denn meine Mutter ging arbeiten. Religiös war sie nicht, aber sie hat koscher gekocht. Sie aß keine Wurst, weil sie sich nicht sicher war, ob da vielleicht Schweinefleisch drin war. Und sie hat Mazzen selbst gebacken, denn die gab es nicht zu kaufen.

Ich kann sagen, dass ich an Gott glaube. Allerdings muss ich dafür nicht jeden Freitag in die Synagoge gehen. Aber bei allem, was ich tue und was ich sage, frage ich mich, was er wohl sagen wird und ob er mich auch nicht bestraft. Früher bin ich gern jeden Freitag in die Synagoge gegangen. Doch ich denke, Gott wird mir nicht böse sein, dass ich das heute nicht mehr so regelmäßig tue. Aber ich bin die, die darauf achtet, dass die richtigen Vorhänge in der Synagoge hängen. Und ich esse Mazzot. Das ganze Jahr über. Ich liebe sie! Manchmal werde ich gefragt, ob ich Chanukka feiere oder Weihnachten. Nun, ich begehe beides, zusammen mit meiner Tochter und ihrem Mann – sie leben in Berlin. Karl, mein Schwiegersohn, ist christlich erzogen. Soll er sein Weihnachten haben!

Datscha Es gibt bestimmt auch hier in Deutschland Antisemitismus, aber viel weniger als in Russland. Früher, in meiner Zeit in Moskau, wenn wir auf der Datscha waren, da wurde an allem immer den Juden die Schuld gegeben. Die Russen redeten ständig von Juden. Haben sie die Datscha zu gründlich sauber gemacht, hieß es, dass die einen Spleen haben. Waren sie nachlässiger, sagte man, sie seien Schlampen. Also: Was auch immer Juden taten – es war falsch. Wahrscheinlich brauchen schlichte Gemüter einen Sündenbock. Hier in Deutschland erlebe ich das viel weniger. Aber es wird ihn schon auch geben, den Antisemitismus. Da hilft nur aufklären und reden.

Im vergangenen November waren es 22 Jahre, dass ich mit einem Besuchervisum von Moskau nach Deutschland gekommen bin – und bleiben durfte! Alle, die sich am 1. November 1991 gerade in Deutschland aufhielten, mussten nicht mehr zurück, wenn sie das nicht wollten. Das war für mich ein ungeheures Glück, denn genauso wie sie es für den verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war, ist auch für mich die deutsche Sprache Heimat.

Deutsch war für mich kein Problem, als ich hier zuwanderte, denn ich hatte es ja in Moskau unterrichtet. Es gibt so gute Autoren, die auf Deutsch geschrieben haben. Und die Sprache klingt auch einfach toll! Apropos Klang: Manchmal würde ich gern Klavier spielen können. Meine Mutter spielte Geige. Das klang wunderschön! In dieser Hinsicht war sie eine »Klischeejüdin«. Leider hat bei mir die Muse versagt. Ein Lehrer aus der Musikschule erklärte meiner Mutter ganz offen, dass ich kein musikalisches Gehör habe.

Thüringen Als ich 1991 entschied, in Deutschland zu bleiben, wollte ich unbedingt nach Thüringen, obwohl meine Tochter in Berlin wohnte. Aber meine Moskauer Freundin Ljudmilla lebte schon in Erfurt und fühlte sich dort wohl. Da bin ich ihr einfach dorthin gefolgt.

Ohne Arbeit mag ich nicht sein. Aber wer möchte das schon? Als ich in Erfurt ankam, suchte die Jüdische Landesgemeinde gerade eine Sozialarbeiterin – am besten eine, die sowohl Russisch als auch Deutsch spricht, denn die meisten in der Gemeinde sind ja Zuwanderer. Ich meldete mich und sagte: »Hier bin ich!« Und so ging ich mit meinen Leutchen ungeheuer viele Wege: zu Ämtern und Behörden, zu Vermietern und Stromanbietern. Die meisten Zuwanderer konnten ja kein Deutsch. Damals hatte ich dafür Verständnis – doch heute nicht mehr! Da kommt manchmal jemand total verängstigt zu uns ins Gemeindebüro, weil er einen amtlichen Brief bekommen hat. Ich sage immer: »Wer Deutsch kann, muss keine Angst haben. Wer ankommen will, muss die Sprache des Landes sprechen.«

Für mich ist das Leben, das ich jetzt lebe, einfach alles. Die Gemeinde macht mein Leben aus. Es ist, als sei ich nach Hause gekommen. Ich habe ja auch nichts anderes mehr. Ich gehöre dazu. Das war mir nicht so deutlich, als ich noch in Russland lebte. Aber vermutlich ist es so, dass man das, was man nicht kennt, auch nicht vermisst.

Aufgezeichnet von Esther Goldberg

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