Porträt der Woche

»Ich glaube an Fügungen«

»Ich fühle mich dafür verantwortlich, dass die jüdische Seele unserer Familie fortbesteht«: Daniel Weltlinger (41) lebt in Berlin. Foto: Anton Tal

Ich besitze zwei Geigen. Eine davon gehörte einst meinem Großvater. Auf dieser Geige, die er als junger Mann von Ungarn nach Frankreich und während des Krieges über Spanien nach Marokko und später nach Australien mitgenommen hat, spielte er oft, als ich ein kleiner Junge in Sydney war.

Ich bin also schon mit Musik aufgewachsen – natürlich mit jüdischer Musik, aber auch mit der Musik der Sinti und Roma, die man damals noch »Zigeunermusik« nannte. So wie ich heute die Geige spiele, hat das sehr viel mit dem Gefühl für jene Musik zu tun, mit der ich aufgewachsen bin.

REISE Es gibt also viel zu erzählen über die Geschichte der Geige meines Großvaters, die nun nach 80 Jahren wieder die Rückreise nach Europa angetreten hat. Ich habe sie zurückgebracht. Diese Geschichte werde ich in einem musikalischen Projekt erzählen, das 2019 als Album erscheinen wird.

Ich komme aus einer nicht sehr religiösen, aber traditionellen jüdischen Familie. Nach dem Besuch der jüdischen Schule habe ich ein klassisches Studium für Geige absolviert. Doch das hatte nur wenig mit der Musik zu tun, mit der ich aufgewachsen war.

Als Kind spielte ich oft auf der Geige meines Großvaters.

Damals, während des Studiums, hängte ich in einer Wäscherei ein Plakat auf. Darauf hatte ich geschrieben, dass ich eine Arbeit als Geiger suche. Daraufhin hat sich Jaron Halis, ein jüdischer Mann aus Südafrika, gemeldet. Wir fingen an, zusammen Musik zu machen, und es hat ihm offenbar gut gefallen. Mir auch. Er machte mich mit den Aufnahmen von Django Reinhardt bekannt. Als ich dessen Geiger Stéphane Grappelli hörte, erinnerte mich dessen Spiel an das meines Opas, der ja diese Musik in den 20er- und 30er-Jahren in Frankreich kennengelernt hatte.

Ich arbeitete dann mit Jaron an einem musikalischen Projekt mit dem Titel »Monsieur Camembert«. Dieses Ensemble gibt es in anderer Besetzung auch heute noch; man könnte die Musik als »Klezmer-Gypsy-Rock« bezeichnen.

HERZ Im Jahr 2002 begegnete ich in Sydney dem Gitarristen Lulo Reinhardt aus Koblenz, der zu der großen Sinti-Familie Reinhardt gehört. Sie sind alle mit Django verwandt und machen fast alle Musik. In dieser Zeit arbeitete ich viel mit der Sängerin Nadya Golski zusammen. Deren Mutter hatte eine Galerie, wo Lulo ein kleines Konzert gab. Zwischen ihm und mir entstand sofort eine starke gegenseitige Sympathie. Bald darauf hat er mich nach Koblenz eingeladen.

Ich nahm die Einladung an und fühlte mich in Europa sofort wohl. Gleichzeitig ließen mich die Gedanken daran nicht los, warum man hier in Deutschland mit der Verfolgung der Juden das Herz Europas verletzt hatte. Nun aber war ich bei den Reinhardts, die ja selbst zu einer verfolgten Bevölkerungsgruppe gehörten.

Eigentlich wollte ich nur Urlaub machen und ein bisschen Musik ...

Von Koblenz aus bin ich schließlich für einige Tage nach Samoreau in Frankreich gefahren, wo es jedes Jahr auf einem Campingplatz ein Django-Reinhardt-Festival gibt. Seither fahre ich dorthin und spiele in verschiedenen Sessions mit den unterschiedlichsten Musikern. Ein daraus entstandenes Album, das ich Samoreau genannt habe, widmete ich den Fans von Django Reinhardt.

Eigentlich wollte ich nur Urlaub machen und ein bisschen Musik, saß dann aber plötzlich inmitten dieser wunderbaren Familie, die mich sofort »adoptierte«. Fortan habe ich viel mit Lulo musiziert, bin mit ihm zwischen China und den USA auf Gastspielreisen um die halbe Welt gereist und habe bei seinen Plattenaufnahmen mitgewirkt. Mein Wohnsitz aber war zu dieser Zeit immer noch in Sydney, denn ich hatte damals nicht geplant, in Europa zu leben. Das hat sich erst mit der Zeit so ergeben.

PASS Vor einigen Jahren habe ich meine jüdisch-ungarischen Wurzeln gesucht – und gefunden. Ich habe am Balaton noch eine Tante und einen Onkel aus der väterlichen Familie, die habe ich besucht.

Vom ersten Moment an habe ich mich in Ungarn verliebt. Nicht nur, weil ich ungarisch-jüdische Wurzeln habe, sondern weil ich hier das Essen und die Gerüche meiner Kindheit wiederentdeckte – und auch die ungarische Tonart der Geige.

Die Geburtsurkunde meines Vaters half mir, die ungarische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Meine Tante hat mir erzählt, in welchem Krankenhaus in Budapest mein Vater geboren wurde. Dorthin bin ich gefahren. Man fand seine Geburtsurkunde, die mir half, die ungarische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Mit einem gewissen Stolz trage ich heute einen Pass, mit dem ich mich als Europäer fühlen darf. Ich habe auch eine Tante in Israel, die Halbschwester meines Vaters, sowie Cousins und Cousinen.

Zu diesem Zweig der Verwandtschaft hatten wir den Kontakt verloren, weil mein Vater sehr jung schon nach Australien ausgewandert ist und leider starb, als ich 17 Jahre alt war. In den letzten Jahren bin ich in Israel zusammen mit dem Berliner Sänger Karsten Troyke aufgetreten, zu dem es eine lustige Geschichte gibt.

SOUNDCOLLAGEN Meine Mutter hatte in Australien mit einer Freundin im Kino einen Film gesehen, in dem Karsten Troyke gesungen hat, und sie war sehr beeindruckt. Ehe ich mich nach Europa aufmachte, sagte sie zu mir: »Kannst du mir bitte CDs von diesem Mann mitbringen?« Als ich schließlich mit Lulo Reinhardt in Berlin gastierte, gelang es mir, mit Karsten Kontakt aufzunehmen und so an CDs für meine Mutter zu kommen. Von da an verbrachte ich drei Monate im Jahr in Europa.

2012 kam ich mit einem musikalischen Projekt nach Berlin, das »The Asthmatix« hieß. Es ist ganz interessant, wie das damals in Sydney begann: Zur Jahrzeit meines Vaters ging ich in die Synagoge, um Kaddisch zu sprechen. Dort habe ich Jossi Milinsky, einen sehr religiösen Mann, kennengelernt. Wir sprachen ein wenig über Musik, und er hat mich zu einer Session eingeladen.

Ich bin mit einem Freund hingegangen, und es entstanden absolut verrückte Soundcollagen aus Klezmer, Hip-Hop, jüdischen Melodien und Jazz. Später kam noch ein vierter Musiker dazu. Leider zog Jossi mit seiner Frau und den Kindern nach New York. Wir drei anderen aber führen das Projekt bis heute weiter. In dieser Formation kamen wir schließlich auch nach Berlin.

Ich fliege zweimal im Jahr nach Australien – zu Pessach und zu den Hohen Feiertagen.

Hier habe ich seitdem eine Menge kreativer Leute kennengelernt, und plötzlich habe ich gefühlt, dass das meine Stadt ist. Längst fühlte ich mich eher als Europäer denn als Australier. So bin ich doch schließlich auch aufgewachsen – mit jüdischer Musik aus Osteuropa und mit Wiener Kuchen, der bei uns zu Hause gebacken wurde. Leider ist darüber in Sydney eine Verlobung in die Brüche gegangen, was mich sehr mitgenommen hat.

UNFALL Nach den Jahren des Hin und Her zog ich schließlich endgültig nach Berlin, wo ja auch ein jüdisches Leben existiert, denn das war mir wichtig. Irgendwann habe ich mich auch wieder bei Karsten Troyke gemeldet. Anfangs hatten wir nicht allzu viel Kontakt, aber als wir zum ersten Mal miteinander musizierten, hatten wir beide ein Gefühl der Nähe zueinander.

Eines Tages hatte ich einen Unfall im Treppenhaus meines Wohnhauses und brach mir dabei den Knöchel. Da lag ich nun in einer Wohnung in der vierten Etage. In diesem Moment besuchte mich Karsten – er bot sofort an, dass ich fürs Erste bei ihm wohnen könne. Daraus wurden drei Monate. Das werde ich ihm nicht vergessen. In dieser Zeit arbeiteten wir an Aufnahmen mit dem Pianisten Götz Lindenberg und der Sängerin Suzanna und sind uns menschlich wie musikalisch nähergekommen.

Vor drei Jahren spielte ich mit Karsten auf einem jüdischen Musikfestival in New York, und dort lernte ich Sharon Brauner kennen. Karsten kannte sie schon aus Berlin, aber ich sah sie zum ersten Mal. Sie gefiel mir gut. 2017 haben wir mit ihr und ihrem Pianisten Harry Ermer das gemeinsame musikalische Projekt »Yiddish Berlin« gemacht – ein Album mit wundervollen jiddischen Liedern.

SPIRITUALITÄT Ich bin ein gläubiger Mensch. Ich glaube an Fügungen. Deshalb lebe ich im Hier und Jetzt. Aber ich bin nicht in dem Sinne gläubig, dass ich denke: »Ich weiß alles.« Es ist einfach ein spirituelles Gefühl. Mit unserer Musik tragen wir in kultureller Hinsicht zum jüdischen Leben in Berlin bei, auch wenn ich nicht regelmäßig die Synagoge besuche.

Allerdings fliege ich zweimal im Jahr nach Australien – zu Pessach und zu den Hohen Feiertagen, um mit meiner Mutter und meinem Bruder zu feiern. Wenn ich an die Zukunft denke, dann würde ich gern eine Frau und Kinder haben. Und es soll eine jüdische Frau sein. Die Familien meiner Eltern haben zu viele Angehörige verloren – ich fühle mich daher verantwortlich, dass die jüdische Seele unserer Familie fortbesteht.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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