Porträt der Woche

»Ich bin froh, Ostjude zu sein«

Eldad Stobezki ist Linguist und erstellt Verlagsgutachten zu hebräischer Literatur

von Eugen El  02.04.2019 09:45 Uhr

»Ich finde es ganz interessant, eine Mischung aus zwei Kulturen zu sein, die sich lieben und hassen«: Eldad Stobezki (67) aus Frankfurt Foto: Rafael Herlich

Eldad Stobezki ist Linguist und erstellt Verlagsgutachten zu hebräischer Literatur

von Eugen El  02.04.2019 09:45 Uhr

Ich wurde im November 1951 in Tel Aviv geboren. Ich hatte einen ganz normalen Werdegang: Grundschule, Gymnasium, Abitur, Militär, Universität. 1973 brach der Jom-Kippur-Krieg aus. Ich wurde wieder für ein halbes Jahr eingezogen. Dann studierte ich Sprachwissenschaft und Englische Literatur. Ich wollte Englischlehrer werden. Nach dem Bachelor-Abschluss im Jahr 1977 merkte ich, dass mich die Universität nicht so sehr interessiert. Ich habe damals auch noch transzendentale Meditation unterrichtet. In den 70er-Jahren war das sehr beliebt in Israel. Es gab also viel zu tun.

Schwäbisch Hall Im Januar 1979 habe ich Freunde in Wiesbaden besucht, die ich aus Israel kannte. Als ich hier war, beschloss ich, einige Monate in Deutschland zu bleiben. Das war kein Problem, weil ich durch meine Eltern deutscher Staatsbürger bin. 1933 sind sie mit ihren Eltern aus Deutschland geflohen. Mein Vater stammte aus Schwäbisch Hall, meine Mutter aus Leipzig. Sie waren 13 und 16 Jahre alt, als sie Deutschland verließen. Meine Familie aus Süddeutschland konnte in die USA und nach Palästina fliehen.

Mütterlicherseits lebten viele Verwandte in Polen. Sie wurden umgebracht. Einige schafften es, nach Palästina zu emigrieren. Erst in den vergangenen Jahren habe ich verstanden, dass ich ein Kind der zweiten Generation bin, auch wenn meine Eltern nicht im KZ waren.

Die Jeckes,
die kein Jiddisch können,
tun mir leid.

Meine Großeltern kamen um 1900 aus Polen nach Deutschland. Das ist witzig, weil bis heute die wenigen Jeckes diesen Unterschied machen: »Ach, ihr seid ja nur Ostjuden!« Dank ihrer ostjüdischen Herkunft haben meine Großeltern gleich nach Hitlers Machtergreifung verstanden, dass man Deutschland verlassen muss. Das haben die Jeckes leider nicht kapiert. Daher bin ich froh, Ostjude zu sein. Außerdem kann ich Jiddisch, kenne auch die Witze. Diese Kultur ist ein Teil von mir. Das ist sehr schön. Die Jeckes, die kein Wort Jiddisch verstehen, tun mir leid.

Frankfurt Als ich 1979 in Wiesbaden war, sah ich in der »Frankfurter Rundschau« eine Stellenanzeige. Ich rief an und wurde eingestellt. Es war sogar eine israelische Firma, das stand nicht in der Anzeige. Es war für mich ein gutes Zeichen, dass ich noch ein bisschen bleiben sollte. So kam ich nach Frankfurt.

Zu dieser Zeit durchlebte ich auch mein Coming-out. Das war vor 40 Jahren noch ganz anders als heute. Ich habe es auch meinen Eltern erzählt. Sie haben es sehr gut aufgenommen. Sie besuchten mich und lernten meine Freunde kennen. Meine Eltern haben gesehen, dass Schwulsein nichts Schlimmes ist. Die Leute gehen auch morgens zur Arbeit, kommen dann nach Hause, kochen und gehen schlafen oder besuchen die Oper. Da hat meine Mutter gesagt, ich könnte, wenn das der einzige Grund ist, auch nach Israel zurückkommen.

HOCHZEIT Ich wollte zwar noch ein bisschen Europa und Deutschland genießen, aber ich bin ein braver Junge und ging dann zurück nach Israel. Ich fing an, in einer Bank zu arbeiten. Das war 1981. Am 22. Dezember lernte ich in Tel Aviv am Strand einen Touristen aus Berlin kennen. Wir haben uns angeschaut, gelächelt und fingen an, miteinander zu reden. Wir haben uns verliebt. Wenige Tage später habe ich Lothar meinen Eltern vorgestellt. Seinetwegen ging ich nach Deutschland zurück. Seitdem sind wir zusammen. Es sind schon 37 Jahre.

Wir sind jetzt natürlich verheiratet, das kann man ja in Deutschland. Als wir uns 2010 zuerst verpartnerten, gab es ein großes Fest. Die Standesbeamtin hielt eine sehr schöne Rede. Etwa 50 Leute waren im Trausaal, nicht alle konnten sitzen. Alles war sehr spontan. Unsere Nachbarn haben einen Sektempfang im Hof organisiert. Hinterher feierten wir hier mit 50 Leuten bis zwei Uhr morgens.

Meine Eltern haben
gesehen, dass Schwulsein
nichts Schlimmes ist.

Wir haben eine tolle Hausgemeinschaft. Wir wohnen schon seit 1985 in dem Haus. Als wir offiziell heiraten konnten, haben wir das der Form halber gemacht. Man weiß in Deutschland nie. Wenn einmal etwas passiert, könnte es heißen: »Sie sind doch nur verpartnert.« Die Niedertracht der deutschen Behörden hat leider nicht aufgehört.

Die Entscheidung, aus Israel nach Deutschland zurückzukehren, war richtig. Lothar wollte nicht in Berlin bleiben. Niemand konnte im Sommer 1982 ahnen, dass die Wiedervereinigung einmal kommen würde. »Dann«, habe ich gesagt, »gehen wir nach Frankfurt.« Eine Großstadt muss es dann schon sein, wenn man aus Tel Aviv kommt.

JIDDISCH Frankfurt gefällt mir durch die zentrale Lage. Vor allem aber, weil es eine wichtige jüdische Stadt war. Ich finde, dass man das noch spüren kann. Es ist für mich wichtig, diesen Spuren nachzugehen und auch zum jüdischen Leben beizutragen.

Ich bin Israeli, Hebräisch ist meine Muttersprache. Um mich herum haben alle Deutsch und Jiddisch gesprochen. Deswegen kann ich auch diese Sprachen. Meine Eltern haben mit uns Kindern Hebräisch gesprochen, untereinander aber oft Deutsch. Eine Großmutter, die bei uns wohnte, sprach eine Mischung aus Jiddisch und Deutsch. In der Siedlung, in der ich aufwuchs, lebten fast nur deutsche Juden. Deutsch war überall zu hören. Es war für mich wie eine zweite Muttersprache.

Identität Ich habe als Kind sehr gern den Gesprächen zugehört. Meine Identität ist natürlich israelisch, aber irgendwo auch trotzdem deutsch, jeckisch und ostjüdisch. Ich finde es ganz interessant, eine Mischung aus zwei Kulturen zu sein, die sich lieben und hassen. Meine Großeltern waren noch fromm, meine Eltern nicht mehr. Zu Hause gab es zwar kein Schweinefleisch, aber auch keine koschere Küche im strengen Sinn. An Feiertagen ging man in die Synagoge, und natürlich feierten wir auch Seder und Rosch Haschana.

Als ich klein war, machte mein Vater jeden Freitag Kiddusch. Mit zunehmendem Alter hat er sich immer mehr von der Religion und ihrer Rolle in Israel distanziert. Meine Mutter meinte, sie kann mit Gott überall reden und muss dazu nicht in die Synagoge oder zum Friedhof gehen.

Wenn ich sehe, wie eine Pflanze
im Frühling nach dem kalten Winter sprießt, ist das für mich Gott – nicht, wenn jemand Vorschriften macht.

Auch ich finde sehr viele Dinge, die im Judentum noch stattfinden, veraltet und überflüssig. Zum Beispiel bin ich ein Gegner von Beschneidung. Homosexualität ist ja auch nicht wirklich erwünscht, nicht nur im Judentum. Gott gibt es vielleicht, aber bestimmt nicht in der Form, wie es Katholiken, Protestanten, Juden und Muslime denken. Wenn ich sehe, wie eine Pflanze im Frühling nach dem kalten Winter sprießt, ist das für mich Gott – und nicht, wenn jemand Vorschriften macht.

LEKTORAT Ich habe viele Jahre kaufmännisch gearbeitet. Seit 1994 bin ich mehr und mehr im Literaturbereich tätig. Es begann mit dem Frankfurter Verlag Alibaba, den es leider nicht mehr gibt. Abraham und Anne Teuter haben viele Bücher aus dem Hebräischen übersetzen lassen. Sie brauchten jemanden, der Hebräisch lesen und einschätzen konnte, ob eine Übersetzung infrage kommt. Ich wurde dorthin vermittelt und habe dann Romane aus Israel gelesen. Oft waren es Jugendbücher.

Dabei habe ich auch Mirjam Pressler, die vor Kurzem leider verstorben ist, kennengelernt. Wir begannen zusammenzuarbeiten und übersetzten gemeinsam einige Bü
cher. Durch sie habe ich viele Verleger und Programmleiter von Verlagen kennengelernt und hatte immer mehr mit Gutachten zu tun.

So habe ich für den Suhrkamp Verlag ein Gutachten zu Lizzie Doron geschrieben und sie empfohlen. Alle Bücher von Lizzie wurden ins Deutsche übersetzt. Das ist ein Riesenerfolg. Lizzie lebt mit ihrem Mann in Berlin und Tel Aviv. Bei ihren Lesungen in Deutschland habe ich schon mehrmals gedolmetscht. Auch Mirjams Übersetzungen habe ich lektoriert.

STRAND 2004 habe ich mich mit meinem Literatur- und Lektoratsbüro selbstständig gemacht. Diese Arbeit mache ich bis heute. Ich bin jetzt 67 Jahre alt. Jung ist das nicht wirklich. Ich habe eine mittlere Rente, muss aber noch etwas dazuverdienen.

Ziele habe ich nicht. Ich versuche, gesund zu bleiben. Ich möchte, solange es geht, leben und Spaß am Leben haben, neue Bücher lesen, schöne Konzerte besuchen und schwimmen gehen.

Der Strand fehlt mir in Frankfurt sehr. Wenn Frankfurt wie Tel Aviv wäre oder umgekehrt, wäre es natürlich schön. Aber man kann nicht alles haben.

Aufgezeichnet von Eugen El

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