Initiative

Gemeinsam die Sorgen vergessen

An diesem Morgen mochte sie gar nichts. Es fiel ihr schon das Aufstehen schwer – und für jeden Handgriff brauchte sie länger als sonst. Raissa Kononenko, 1928 geboren, lacht, wenn sie von ihrem beschwerlichen Morgen erzählt.

Nun ist es später Vormittag – und sie hat bereits »anregende und schöne Stunden« erlebt. Denn sie und ihr Ehemann Arkadi Brodski sind an diesem Tag bei der ambulanten Tagesstätte »Mit Herz und Seele« im Seniorenzentrum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Zweimal in der Woche kommen sie in die Herbartstraße. »Wir sind sehr gerne hier und lieben alles, was für uns gemacht wird. Es sind sehr nette Leute, die uns bedienen«, sagt Raissa Kononenko.

Montag ist immer einer »ihrer« Tage. Gegen 9 Uhr sind sie trotz des schlechten Starts in den Morgen bereits im Pflegeheim, in dessen oberer Etage »Mit Herz und Seele« ihre Räume bezogen hat. »Schön, dass ihr da seid«, begrüßt Irina Müller, stellvertretende Leiterin, die beiden.

begrüßung Erst einmal gibt es Umarmungen und Küsse. Dann geht es in den Gruppenraum, wo eine Mitarbeiterin Artikel aus den aktuellen Zeitungen vorliest. Russische und deutsche Medien stehen zur Auswahl – wobei fast alle Gäste, wie sie genannt werden, Russisch als Muttersprache sprechen. »Was aktuell in der Welt los ist, steht bei uns immer auf dem Programm«, sagt Müller.

Nach 45 Minuten geht es in den Aufenthaltsraum. Musiktherapeutin Marina Gamal ist schon seit Längerem dabei, alles für die Musikstunde vorzubereiten. Sie sucht Blätter mit Noten und Texten aus ihrer Tasche hervor und stöpselt den Stecker des Synthesizers in die Steckdose. Die Sofas und Sessel sehen einladend aus, und das Regal ist mit Büchern gefüllt. Die 20 Gäste kommen nach der Zeitungsstunde in den Raum und setzen sich.

Raissa Kononenko und Arkadi Brodski machen es sich in einem Sessel und auf dem Sofa gemütlich. »Ich freue mich, dass ihr alle gesund und da seid«, sagt die Musiklehrerin. Gemeinsam singen sie ein Begrüßungslied.

Erinnerungen Dann greift sie in eine Tasche und holt Kleidungsstücke im Matrosenstil hervor: Es geht zur See in dem nächsten Lied. »In der Nacht sind die Sterne erleuchtet, die Melodie bleibt bei den Menschen«, lautet die freie Übersetzung. »Das Lied war sehr populär, als unsere Gäste jung waren – weshalb sie sich gut an den Text erinnern«, meint Irina Müller. Alle haben nun die »Seemode« übergestreift und schunkeln im Takt. Beim nächs-ten Lied geht es um ein lustiges Leben, weshalb im Refrain mit den Füßen gestampft wird.

Täglich kommen 20 Gäste von 8 bis 16 Uhr in die Einrichtung. Die Nachfrage ist so groß, dass es schon eine Warteliste gibt. Etliche Gäste sind einmal in der Woche dabei, andere zweimal. Abgerechnet wird mit der jeweiligen Krankenkasse.

Gymnastik Fünf Mitarbeiter und Betreuer bieten neben der Musikstunde, der Fingergymnastik, dem Gedächtnistraining, dem Aquarellmalen und Kegeln auch Unterricht im Gleichgewichthalten und in der Sturzprophylaxe. Ferner gibt es eine Demenzgruppe. Ebenso stehen gemeinsame Spaziergänge auf dem Plan. Neben dem Aufenthalts- und dem Gruppenraum gibt es auch ein Zimmer zum Ausruhen und Blutdruckmessen.

»Ältere Menschen vereinsamen oft«, sagt Irina Müller. Einmal hatte ihr eine Frau erzählt, dass sie drei Tage lang mit keinem einzigen Menschen gesprochen hätte. Da war auch Irina Müller geschockt. Die Gäste würden »aufblühen, wenn sie angesprochen werden«, betont Müller. Sie würden schon beim gemeinsamen Frühstück strahlen.

Seit April gibt es nun diese Filiale von »Mit Herz und Seele«. Die Organisation ist ein Ambulanter Pflegedienst, der auch Tagesstätten betreibt und mehrere Einrichtungen in Berlin hat.

Konzept Vorausgegangen war, dass das erst wenige Jahre alte Pflegeheim der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nicht ausreichend genutzt wurde und dass rote Zahlen geschrieben wurden. Sigrid und Garry Wolff, Leiter des Seniorenzentrums der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, zu dem das Pflegeheim gehört, hatten in der Repräsentantenversammlung das Konzept eingereicht, die obere Etage an eine Tageseinrichtung zu vermieten und noch zwei Wohngemeinschaften einzurichten.

Die Tagesstätte ist nun eingezogen, und eine Wohngemeinschaft ist in Planung. »Der Trend geht immer mehr weg von einem Pflegeheim zum individuellen Wohnen auch im Alter«, sagt Garry Wolff. Das Pflegeheim hat nun 65 statt 75 Plätze zur Verfügung. Allerdings seien lediglich um die 40 Plätze vergeben. »Die Tagesstätte ist ein großer Gewinn. Es ist ein schönes Angebot für unsere jüdischen Senioren«, sagt Wolff.

Arkadi Brodski klopft mit seinem Stock im Takt, dann geht er herum und hält einen nicht vorhandenen Hut vor den anderen Gästen auf – so als wenn er Straßenmusiker wäre und nun um Geld bittet. Alle lachen. Der Koch kommt herein und bringt Teller, die mit Johannisbeeren, Melone und Erdbeeren beladen sind. Es duftet schon nach Mittagessen – an diesem Tag gibt es Zanderfilet und Polenta. Der Koch kennt sich mit den Essgewohnheiten der Gäste aus und weiß, wer Diabetiker ist.

zwangsarbeiterin Raissa Kononenko hatte schon einmal in Deutschland gelebt – und zwar als Zwangsarbeiterin in Augsburg, weshalb sie Deutsch spricht. Ihre Familie wurde in Russland während des Zweiten Weltkrieges erschossen.

Sie hatte damals helle Haare und blaue Augen – und niemand wusste, »dass dieses kleine Mädchen jüdisch ist«. Sie versteckte sich im Wald, bis sie gefangen genommen und nach Augsburg deportiert wurde. Dort arbeitete sie bei Bauern. Nach dem Krieg kam sie nach Odessa.

»Ich hatte keinen einzigen Menschen mehr, alle waren tot.« Dann lernte sie Arkadi Brodski kennen, sie heirateten und bekamen zwei Kinder. Die Tochter kam bei einem Unfall ums Leben und der Sohn ging nach Deutschland – weshalb sie ebenfalls hierher kamen. »Hier muss ich keine Angst haben, nur weil ich Jüdin bin«, sagt sie. »Hier kann ich alle Sorgen vergessen.«

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