Neulich hat mich jemand gefragt, ob ich jüdisch aufgewachsen bin. Ich musste lachen. Zwar heißt mein Bruder Aaron, und meine Mutter liebt Hummus, aber viel mehr Jüdisches gibt es in meiner Familie nicht. Wir feierten in meiner Kindheit die Hohen Feiertage nicht, besuchten nie eine Synagoge, und unser Freitag bedeutete Wochenende – nicht mehr.
Als Jugendliche hätte mein Wissen über das Judentum in eine SMS gepasst. Später stifteten mir meine Jobs mehr Identität als Judaika. Als Konzertveranstalterin bei einer großen Agentur ging ich wochenlang mit berühmten Bands auf Tour, war stolz auf meine unzähligen Backstagepässe für Festivals und meine Kontakte zu superwichtigen Persönlichkeiten. In der Musikszene war ich eine Gewinnerin. Mich selbst hatte ich dabei jedoch verloren.
Deshalb begann mein Weg in das liberale Judentum auch nicht mit einem religiösen Erweckungserlebnis, sondern mit einer weltlichen Identitätskrise. Ich hatte jahrelang für andere To-do-Listen abgearbeitet, aber mich schon lange nicht mehr gefragt, was ich für mein eigenes Leben tun möchte. Das Judentum war wie ein Puzzleteil, das meiner Identität fehlte. Wobei der Vergleich hinkt, denn sobald ein Puzzle vollendet ist, verliert es den Reiz. Mit dem Jüdischsein ist das anders. Es ist ein lebenslanger Prozess.
Trotz gefestigter Traditionen gibt es Raum für Themen wie Feminismus oder queeres Leben.
Insbesondere das liberale Judentum verändert sich stetig. Es bietet trotz gefestigter Traditionen viel Raum für aktuelle Themen wie Feminismus oder queeres Leben. Gerade weil es sich wandelt, prägt es meinen Alltag als moralischer Kompass und bedeutet vor allem: mitmachen im Hier und Jetzt.
Meine Vergangenheit kann ich nicht verändern. Ich kann meine Kindheit nicht in einer jüdischen Bilderbuchversion erneut durchspielen. Aber ich kann durch mein Handeln die Gegenwart gestalten und mein eigenes Jüdischsein formen.
Als Jugendliche hätte mein Wissen über das Judentum in eine SMS gepasst.
Der 7. Oktober 2023 zeigte mir, wie schnell mich diese Gegenwart einholen kann. Gemeinsam mit Millionen anderen jüdischen Menschen versetzte mich der Terrorangriff der Hamas in eine Schockstarre. Ich scrollte stundenlang durch meinen Feed, sah die Bilder des Massakers, fühlte das Leid der jüdischen Community und hörte das Schweigen meiner nicht-jüdischen Bekannten hierzulande. Ich fragte mich, ob ich nach den Gräueltaten der Hamas einfach so in meiner kleinen jüdischen Blase weiterleben kann: zum Schabbatgottesdienst gehen, meine Hebräisch-Vokabeln lernen und in den sozialen Medien meine Betroffenheit in Posts ausdrücken. Aus meiner Identitätskrise hatte ich gelernt, dass sich nur etwas ändert, wenn ich handle. Also musste ich erneut meine Komfortzone verlassen.
Auf Instagram stieß ich auf einen Post von Hillel International. Die Organisation suchte Freiwillige für die vom Massaker der Hamas betroffenen landwirtschaftlichen Betriebe der Kibbuzim entlang der Grenze zum Gazastreifen. Ich bewarb mich für die erste Woche im April, erhielt eine Zusage und buchte meine Flüge. Die Nervosität kam erst, als das Datum der Abreise näher rückte. War das bloß eine naive Kurzschlussreaktion, mich in ein Kriegsgebiet zu begeben? Instrumentalisierte ich die Situation der Menschen vor Ort, um mich mit meiner Ohnmacht als Jüdin in Deutschland besser zu fühlen? Solche Fragen geisterten mir beim Kofferpacken durch den Kopf.
Ich fand die Antwort, als ich in Tel Aviv landete und wenig später die vielen anderen jungen Menschen kennenlernte, die wie ich gekommen waren, um ihrem Jüdischsein durch den Freiwilligendienst eine neue Facette zu geben. Ich traf auf Menschen, die von orthodox bis »just Jewish« das gesamte Spektrum unserer Gemeinschaft abbildeten. Allen war es ein inneres Bedürfnis, nach Israel zu kommen und der Gesellschaft dieses Landes ihre Zeit und Kraft zu geben.
Der Zusammenhalt zeigte sich in seiner ganzen Stärke.
Bei der Ankunft in unserem Quartier im Stadtteil Florentin erstaunte mich, wie viel Leben sich trotz des Krieges auf den Straßen abspielte. Weil keine Touristen im Land waren, kamen wir schnell mit Menschen ins Gespräch, die uns für unseren Einsatz dankten – noch bevor wir ein Gewächshaus von innen gesehen hatten. Die Trauer und Passivität der vergangenen Monate wichen langsam dem Gefühl, dass sich der Zusammenhalt unserer Gemeinschaft in Krisenzeiten tatsächlich in seiner ganzen Stärke zeigt.
Am nächsten Morgen fuhren wir um sieben Uhr mit dem Bus zu einem Kibbuz in der Nähe von Sderot. Als wir den ersten Checkpoint passierten, merkte ich, dass schon nur wenige Kilometer von Tel Aviv entfernt eine andere Realität herrschte.
Statt lauter Musik in Bars und dem Gelächter auf der Straße hörten wir jetzt – je mehr wir uns der Grenze zu Gaza näherten – ein dumpfes Grollen am Horizont. Doch statt darüber nachzudenken, was diese mir bis dahin unbekannten Geräusche bedeuten, mich zu ängstigen oder in Panik zu verfallen, stand Feldarbeit an.
Wir ernteten Tomaten und Gurken. Die Madrichot ließen laute Technomusik über eine Bluetooth-Box laufen, die sich über den fernen Donner legte, und wir füllten Kisten mit reifem Gemüse. Zusammen ergaben sie am Ende des Tages ein sichtbares Resultat. Die paar Dutzend Kisten hatten wir gemeinsam befüllt und damit einem Bauern geholfen, seine Ernte vor dem Verderben zu retten. Trotz Sonnenbrand und Dreck unter den Fingernägeln erfüllte uns diese Gewissheit.
Zum ersten Mal in meinem Leben war ich an einem Ort unbeschreiblichen Grauens.
In den folgenden Tagen ernteten wir an unterschiedlichen Stationen entlang des Gazastreifens in Gewächshäusern Gemüse oder pflanzten auf den Knien lange Reihen Salatsetzlinge. Die Sonne brannte auf die Plastikplanen – Wellness fühlte sich anders an. Aber nach all den Jahren, die ich damit verbracht hatte, irgendwo wichtig herumzustehen und über das Musikbusiness zu faseln, hatte ich endlich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Jeder der Bauern hatte bei dem Angriff Familienangehörige oder Bekannte verloren, und mit dem Ausbleiben der Erntehelfer stand nun auch seine Existenzgrundlage auf dem Spiel. So erhielt jeder Salatkopf und jede Tomate eine Bedeutung für mich: Tikkun Olam.
Am Donnerstag besuchten wir als eine der ersten ausländischen Gruppen das Gelände des Nova-Festivals. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich an einem Ort unbeschreiblichen Grauens, den ich bisher nur aus Bildern oder Videos kannte. Den Boden der Tanzfläche mit meinen eigenen Füßen zu betreten, die dort aufgestellten Bilder der Getöteten mit meinen Augen zu sehen, hat mich tief erschüttert.
Wie ein so friedlich wirkender Ort mit seinem Schatten spendenden Grün, durch das ein kühlender Wind weht, zum Inbegriff des Bösen werden kann, begreife ich bis heute nicht. Mich verfolgen bis jetzt die Bilder der von den Angehörigen gestalteten Plakate und die Gedenkschreine, die an ihre Liebsten erinnern. Meine Worte reichen nicht aus, um dieses Erlebnis zu beschreiben. Es fühlte sich falsch an, am nächsten Tag – wie geplant – gemeinsam den Schabbat in einer fröhlichen Abschlusszeremonie zu begehen.
Aber genau das entpuppte sich als Segen, weil niemand mit seinen Gefühlen allein sein musste. Natürlich brach das Erlebte in stillen Momenten aus uns heraus, aber das Empfinden von Ohnmacht war verschwunden. Bei dem anschließenden Kiddusch feierten wir mit jedem »LeChaijm« aus tiefstem Herzen das Leben und die Lebendigkeit unserer Gemeinschaft. Mittlerweile ist mir klar, dass Jüdischsein mehr als eine religiös geprägte Kindheit oder das Wissen um die Gebräuche und Rituale bedeutet. Ersteres hatte ich nicht, Letzteres musste ich lernen. Aber genau dieser Prozess hat mich mir selbst und der Gemeinschaft nähergebracht. Es ist ein lebendiger Teil meiner Identität, der wächst und sich wandelt. Spätestens in Israel habe ich gelernt, dass wir nie allein sind. Vielleicht ist Jüdischsein einfach das, was wir gemeinsam tun.
Aufgezeichnet von Lorenz Hartwig