Frankfurt

Gemeinsam auf der Bühne

Schüler schrieben sechs Zeitzeugengespräche auf und machten daraus ein Theaterstück

von Elke Wittich  23.01.2020 14:56 Uhr

Jung trifft Alt beim Frankfurter Theaterprojekt. Foto: Ricarda Theiss

Schüler schrieben sechs Zeitzeugengespräche auf und machten daraus ein Theaterstück

von Elke Wittich  23.01.2020 14:56 Uhr

Nach acht Monaten generationsübergreifender Zusammenarbeit ist es so weit: Am 2. Februar wird in Frankfurt das Pilotprojekt »Zeitzeugentheater« aufgeführt. Neun jüdische Schüler und Schülerinnen sowie sechs Zeitzeugen, die zwischen 1931 und 1939 geboren wurden, haben sich ein Dreivierteljahr lang einmal wöchentlich getroffen, um mithilfe von Experten die Erlebnisse der Senioren während Holocaust und Nazizeit in einem Bühnenstück niederzuschreiben.

Vorbilder Das Projekt orientiere sich »an über 60 erfolgreich durchgeführten ›Zeitzeugentheatern‹«, erklärt Ricarda Theiss, Sozialreferentin bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) und Koordinatorin des auf drei Jahre angelegten Programms. In Kooperation mit dem Joint Distribution Committee (JDC) und mit Unterstützung der deutschen Sozialaktion »Aktion Mensch« werden in diesem Zeitraum noch in zwei weiteren deutschen Städten Zeitzeugentheater stattfinden.

Die Zahl zwei erscheint zwar wenig, aber die Vorbereitungsphase ist beträchtlich. Das Besondere an den Zeitzeugentheatern ist nämlich, dass nicht wie bei üblichen Theaterstücken nur ein einziges Textbuch zugrunde liegt. Die jungen Laiendarsteller müssen weit mehr tun, als lediglich ihre Rolle auswendig zu lernen und ihren Auftritt zu proben.

Psychologen begleiten die Theaterarbeit und helfen den alten Menschen.

Auf die Bühne gelangen vielmehr die konkreten Erfahrungen und Lebensgeschichten von Menschen, die in dieser Stadt leben. Umgesetzt werden sie mit der Hilfe eines ganzen Teams von Experten und von den Jugendlichen, die diese Geschichten szenisch darstellen. So entsteht eine Aufführung, die nicht nur Einblicke in das Leben der Holocaust-Generation ermöglicht. Sie zeigt den Jugendlichen und den Zuschauern zudem eindrücklich, dass diejenigen, die dem Terror der Nazis ausgesetzt waren, immer noch mitten unter ihnen leben.

Die Idee zu dem Zeitzeugentheater stammt von Ezra Dagan, Professor an der Universität in Haifa, und seiner Frau Irit. Vor rund 16 Jahren begannen sie das Projekt, wenig später kam Maggie Gad von der Organisation für ältere Menschen in Israel, JDC-Eshel, dazu, die mit lokalen Schulen, der Regierung und anderen Hilfsorganisationen zusammenarbeitete.

Außerdem trug Gad dazu bei, dass das Zeitzeugentheater (englisch »Witness Theatre«) auch nach Florida und Europa, somit nicht zuletzt nach Deutschland (Köln und seit 2019 Frankfurt) gekommen ist, sagt Ricarda Theiss. Jutta Josepovici (Leiterin der Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde Frankfurt) hat sich für die Umsetzung eines solchen Projektes eingesetzt und ist die Initiatorin in Frankfurt.

Vertrauen Ezra Dagan weiß: Wenn alte Menschen von traumatisierenden Erlebnissen während der Zeit des Holocausts berichten, erfordert dies bei allen Beteiligten viel Sensibilität. »Es braucht Mut, die Geschichten, wie Menschen den Holocaust überlebt haben, aufzugreifen, zu erzählen und zu präsentieren«, sagt sie. Es sei ein schrittweiser Prozess, vom zunächst noch zurückhaltenden ersten Kontakt bis hin zur zunehmend vertrauteren Zusammenarbeit. Ezra und Irit Dagan stellten sich am Anfang viele Fragen, wie die, ob »wir uns alten Schmerzen und geheilten Wunden nähern sollten, und wenn ja, wie weit wir gehen sollten«.

Zu dem Projekt in Frankfurt meldeten sich schnell Zeitzeugen.

Als das Projekt jedoch in Frankfurt vorgestellt wurde, meldeten sich schnell Zeitzeugen, die mitmachen wollten. »Wir haben Glück, denn sie kennen sich hier in der Frankfurter Gemeinde schon vom ›Treffpunkt‹ für Überlebende, dadurch ist schon eine Vertrauensbasis gegeben, weil die Ansprechpartner bereits bekannt sind«, sagt Theiss. Nach Vorarbeiten in kleinen Gruppen erzählte jeder Zeitzeuge rund anderthalb Stunden lang seine Lebensgeschichte. »Wir hatten auch Dolmetscher dabei, damit diejenigen, die das wollten, Russisch sprechen konnten«, sagt Ricarda Theiss.

Psychologen begleiten die Theaterarbeit. »Nicht jeder Zeitzeuge möchte es sich anmerken lassen, dass ihm die Erinnerung nahegeht«, weiß Ricarda Theiss. In den Teamsitzungen werde daher sehr auf Anzeichen geachtet, ob jemand vielleicht Hilfe benötigt.

Resonanz Insgesamt sei das Projekt für die alten Menschen sehr wichtig. »Sie fühlen sich gehört und bekommen viel positive Resonanz.« Gleichwohl sei »mit fortschreitendem Alter vieles zeitaufwendiger und anstrengender«, oder es wird jemand krank oder muss sogar ins Krankenhaus. »Aber wir haben eben auch oft erlebt, wie sehr sich die Zeitzeugen gefreut haben, wenn es ihnen wieder gut ging und sie weiter teilnehmen konnten.«

Aber auch für die Schüler sei die Arbeit nicht immer einfach gewesen, nicht nur, weil sie das Gehörte auch erst einmal verarbeiten mussten. Viele der Jugendlichen machten gerade Abitur, erzählt Theiss, und nehmen trotzdem »einen immensen Mehraufwand auf sich«.

Eine Zeitzeugin, berichtet Theiss, habe es so ausgedrückt, dass »der Staffelstab an die nächste Generation weitergegeben werden muss«, die ihn dann wiederum ihrerseits weitergebe.

Am 2. Februar werden alle gemeinsam auf der Bühne stehen, die Jugendlichen und die Senioren.

Bühnenbild Am 2. Februar werden nun alle gemeinsam auf der Bühne stehen, die Jugendlichen und die Senioren. Der Fokus soll auf den Erzählungen liegen, aufwendige Dekorationen wird es nicht geben. »Wir haben mit Absicht ein minimalistisches Bühnenbild, benutzen aber Requisiten, die die Schüler und die Zeitzeugen mitbringen.«

Außerdem wird das Theaterstück musikalisch begleitet. »Musik ist wichtig«, sagt Theiss. Die Treffen enden schließlich auch immer damit, dass alle gemeinsam das Lied »Kol ha’olam kulo gescher zar meod« (Die ganze Welt ist eine schmale Brücke) singen. »Die meisten haben einen persönlichen Bezug dazu, ob auf Hebräisch oder Jiddisch. Das Jiddische ist bei vielen Senioren und Seniorinnen auch heute noch sehr präsent.«

Wer die Frankfurter Aufführung nicht sehen kann, hat gleichwohl noch gute Chancen, mehr über das Zeitzeugentheater zu erfahren. Ein Filmteam um die Regisseurin Svetlana Fourer begleitete das Projekt und filmte Proben, Gruppengespräche und wird natürlich auch bei der Aufführung dabei sein.

In der Gemeinde wird dann die Filmpremiere stattfinden, freut sich Theiss bereits jetzt. Und außerdem sei geplant, später den Film online frei zugänglich zu machen.

Zeitzeugentheater, 2. Februar, 16 Uhr, Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum, Savignystraße 66, Frankfurt
Anmeldung unter: zwst.org/zeitzeugentheater

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