München

»Erinnerung ist Leben«

Religiöse Heimat für die Gemeindemitglieder: die Synagoge Ohel Jakob Foto: Alon Kol

An Pessach kommen wir mit unseren Familien und Freunden zusammen, um gemeinsam zu feiern und um uns gemeinsam zu erinnern. Im Bund mit der weltweiten jüdischen Gemeinschaft besinnen wir uns auf den zentralen Befreiungsschlag unserer Vorfahren, die mit G’ttes Hilfe die Ketten der Sklaverei sprengten und ins Heilige Land aufbrachen.

Gedenken, Erinnerung spielt im Judentum eine zentrale Rolle. Erinnerung an die Verheißung von Haschem, an das Geschenk des Landes und an den Bund. 169-mal begegnet uns der Wortstamm zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel. Eine jüdische Weisheit lautet: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung lautet Erinnerung«. Und Elie Wiesel hat einmal festgestellt: »To be a Jew is to remember.«

Verfolgung Ende Januar jährte sich Hitlers Machtantritt zum 80. Mal. Unaufhaltsam drehte sich von da an die Spirale in den Abgrund der Menschlichkeit. Sukzessive, aber mit atemberaubender Geschwindigkeit realisierten »der Führer«, seine Anhänger, Mitläufer und Vollstrecker die bereits in Mein Kampf dargelegte Ideologie der Menschenverachtung, basierend auf Hass und Wahn. In der Nacht auf den 28. Februar 1933 brannte der Reichstag. Die Umstände sind bis heute ungeklärt – die politischen Folgen eindeutig: Die Abschaffung der Grundrechte bahnte den Weg der legalen Verfolgung politischer Gegner. Am 24. März 1933 folgte die nächste entscheidende Etappe der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Das Ermächtigungsgesetz markiert das Ende des Parlamentarismus in Deutschland – die Zerstörung der Republik.

Die ersten antijüdischen Maßnahmen fanden im Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 ihren ersten traurigen Höhepunkt. Im März fand die »Aktion wider den undeutschen Geist« statt. Sie bildete den Auftakt der groß inszenierten öffentlichen Bücherverbrennungen im Mai 1933, bei denen Zehntausende Werke verfemter Autoren von Studenten, Professoren und NS-Organen ins Feuer geworfen wurden.

All das ist gerade einmal 80 Jahre her. Weitere Jahrestage erinnern uns an die jüngste und katastrophalste Zeit der Verfolgung unseres Volkes. Am 9. November jährt sich zum 75. Mal die Reichspogromnacht, die die Schwelle zur offenen Verfolgung der Juden markiert. Vor 70 Jahren kam es im Warschauer Ghetto zum Aufstand, in dem die internierten Juden sich gegen die Deportation in die Vernichtungslager zu wehren versuchten. 70 Jahre liegen auch die Aufstände in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor zurück.

gedenken Im Jahr 2013 muss sich die deutsche Erinnerungskultur beweisen. Der Nationalsozialismus und seine unbegreiflichen Verbrechen befinden sich an der historischen Schwelle zwischen Zeitgeschichte und Geschichte. Die Zeitzeugen, die Erlebnisgeneration geben den Stab der Erinnerung an die Erkenntnisgenerationen ab. An junge Menschen, die sich hoffentlich ihrer Aufgabe stellen und nicht der Versuchung erliegen, allein aufgrund wachsender zeitlicher Distanz aus dem Vermächtnis der Verantwortung auszutreten.

Längst sind Hitler und die Nazis in TV und Print allgegenwärtig. Auch und zuletzt immer öfter in humoristischer Form. Er ist wieder da ist der Buch- und Hörbuch-Bestseller der vergangenen Monate. Wir müssen uns an den sich verändernden Umgang mit der Schoa, die bis heute Wunden in das jüdische Leben auch unserer Gegenwart gerissen hat, gewöhnen. Das ist ein gesunder Normalisierungsprozess dieses Landes, in dem wir uns für das Leben entschieden haben.

verantwortung Das ist aber nur dann möglich, wenn die historische und politische Sensibilisierung und das emotionale Geschichts- und Verantwortungsbewusstsein nicht (ver)schwinden. Rein pflichtbewusstes und vernunftorientiertes Gedenken wird über kurz oder lang zum leeren Ritual verkommen. Deutschland braucht eine kluge, eine Nach-Denk-Erinnerungskultur. Jeder Akt der Erinnerung, alles Gedenken muss den Brückenschlag in die Gegenwart in sich tragen. Nur dann können die jüngeren Generationen eine Sinnhaftigkeit für ihr Leben erkennen.

Das Jahr 2013 ist in der Bundesrepublik Deutschland ein wichtiges Wahljahr. Ich wünsche mir, dass die Menschen in unserem Land sich der Tatsache bewusst werden, welch Segen es darstellt, dass wir wählen gehen können. Gerade für jene, die G’tt sei Dank nie etwas anderes erlebt haben, sind der Frieden und die freiheitliche Demokratie unserer Gegenwart eine Selbstverständlichkeit – ein Irrglaube, dem anheimzufallen verheerend sein kann.

herausforderungen Täglich zeigt sich die Verletzlichkeit von Freiheit, Frieden und Demokratie. Täglich stehen wir vor zivilisatorischen und ethischen Herausforderungen. Der Rechtsextremismus, der islamistische Terrorismus, der latente oder manifeste Antisemitismus in seinen verschiedenen Formen, in denen er sich uns immer öfter und ungenierter präsentiert. Phänomene der Gegenwart, die gerade in Deutschland keinen Raum haben dürfen.

Ich wünsche mir in der Politik sowie seitens der Zivilgesellschaft mehr deutliche, entschlossene und unmissverständliche Ausprägungen der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. Innerhalb eines Menschenlebens war dieses Land eine halbherzige Demokratie, dann eine singulär schreckliche, inhumane Verbrechensdiktatur und nun ein Paradebeispiel für Rechtsstaatlichkeit und freiheitliche Demokratie. Kein Wunder, sondern Ausdruck des klaren Bekenntnisses: Wir haben verstanden. Ganz und gar keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis konsequenter Auseinandersetzung und Akzeptanz der Notwendigkeit des Erinnerns als unerlässlicher Quell wertvoller Lehren aus der Vergangenheit. Verantwortung verjährt nicht. Die Erinnerung ist unkündbar.

Botschaft Die jüdische Gemeinschaft lebt dieses Bewusstsein von Generation zu Generation. Die Bräuche des Seder führen uns die Strapazen und Herausforderungen vor Augen, die unsere Vorfahren auf ihrem Weg durch die Wüste bewältigen mussten. Gemeinsam, so die unverrückbare Botschaft von Pessach, können wir als Gemeinschaft alles erreichen. Eine Erkenntnis, die ich ganz Deutschland wünsche und all jenen Menschen, die in unserer Gesellschaft danach streben, friedlich und in gegenseitigem Respekt miteinander zu leben.

Pessach sameach vekascher! Die besten Grüße und Wünsche für ein frohes und koscheres Pessach.

Ihre Charlotte Knobloch

Zentralrat der Juden

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