Porträt der Woche

»Die Heimat bleibt einem«

Robert Spitz ist Schauspieler und leitet ein kleines Theater in München

von Katrin Diehl  02.02.2020 07:05 Uhr

»Meine Eltern ließen uns sehr weltlich und offen aufwachsen«: Robert Spitz (65) lebt in München. Foto: Christian Rudnik

Robert Spitz ist Schauspieler und leitet ein kleines Theater in München

von Katrin Diehl  02.02.2020 07:05 Uhr

Ich fahre zwei- bis dreimal im Jahr nach Niederbayern, nach Straubing. Es ist ein bisschen Heimat geblieben. Außerdem gibt es dort bis heute Menschen, die etwas anfangen können mit »dem Sallinger«, dem Textilkaufhaus für Kinder-, Damen- und Herrenkonfektion, Kurzwaren, Teppiche und Gardinen. Es stand ja mitten im Zentrum, am Ludwigsplatz. Und es war mein Zuhause. Bis heute bin ich Mitglied der Straubinger jüdischen Gemeinde, obwohl ich gefühlt schon Ewigkeiten in München lebe. Straubing hat mich zu einem bayerischen Buben gemacht. Das bleibt einem, so wie einem die Vorfahren bleiben.

Meine Großeltern väterlicherseits verließen Deutschland 1937/38. Sie ließen Geschäftshäuser, die im Familienbesitz waren und Filialen in Straubing, Regensburg und Weiden hatten, hinter sich und emigrierten nach Israel. Obwohl sich mein Großvater lange dagegen gesträubt hatte. Aber meine zionistisch gesinnte Großmutter hat nicht lockergelassen. Und als dann der Großvater auch noch für ein paar Tage nach Dachau gekommen ist, war die Sache entschieden: Von Marseille aus ging es mit dem Schiff nach Palästina.

So kam es also, dass mein Vater seine Frau, meine Mutter, in Israel kennenlernte und heiratete. Die Familie meiner Mutter stammte aus Bulgarien. In Israel wurde erst meine Schwester geboren. Und später, 1955, ich. Das war dann allerdings schon wieder in Bayern, in Straubing. Und das hatte einen Grund.

Einer meiner Onkel, der gehört hatte, dass in der amerikanischen Besatzungszone jüdischer Besitz ziemlich schnell wieder zurückgegeben würde, reiste 1948 von Israel nach Bayern mit dem Auftrag, den Familienbesitz entgegenzunehmen, zu verkaufen und das Geld dann nach Israel zu bringen. Aber es kam anders. Der Onkel traf nämlich bei seiner Reise einen ehemaligen Geschäftsführer vom »Sallinger«, der ebenfalls geflohen war, und jetzt bei seinen alten Schwiegereltern vorbeischaute. Und dieser Mann riet meinem Onkel, ja nicht zu verkaufen, sondern stattdessen die Geschäfte wiederzueröffnen. Mein Vater ist also 1952/53 samt Anhang zurück nach Straubing gegangen, wo ich dann bald geboren wurde.

Als ich als Kind einmal als »Saujude« beschimpft wurde, setzte sich ein Lehrer für mich ein.

Ich hatte eine gute Kindheit. Über meiner Familie hing nicht diese erdrückende Tragödie. Entfernte Verwandte aus Würzburg waren die Einzigen, die ermordet worden waren. Die anderen sind rechtzeitig geflohen. Die Straubinger haben uns auch recht gut aufgenommen damals. Ein Banker hat zum Beispiel gesagt: »Ich kenne die, die kriegen von mir einen Kredit. Punkt.« So konnten mein Vater und mein Onkel wieder das »Sallinger« übernehmen. Natürlich wussten wir, dass da auch nicht wenige Nazis unterwegs waren. Denen ist man dann halt einfach aus dem Weg gegangen.

WOLKE Meine Eltern ließen uns sehr weltlich und offen aufwachsen. Ich war sogar im katholischen Kindergarten, habe mich sehr über diesen Nikolaus erschreckt mit dem goldenen Buch, in dem Sachen über mich standen, von denen ich mir überhaupt nicht erklären konnte, wie die da hineingekommen sind.

Natürlich sind wir auch in der Jüdischen Gemeinde gewesen zu den Hohen Feiertagen und so weiter, aber ich mochte das als Kind überhaupt nicht, weil ich da dann schon gemerkt habe, dass da irgendetwas darüber lag, so eine dunkle Wolke. Sederabend bei Bekannten in Regensburg und mit all den anderen Menschen an dieser großen Tafel war für mich vor allem eines: sehr lang.

In einem Film von Ralph Giordano kam ich vor mit langen Haaren und Bart, einer selbstgestrickten roten Jacke und einem sehr bayerischen Zungenschlag.

Zu Hause haben meine Eltern untereinander immer Englisch gesprochen, und mein Vater, der Freunde bei den GIs hatte – Straubing war ja eine amerikanische Garnisonstadt –, hat öfter Pancakes und Ahornsirup im PX-Laden eingekauft, einem sogenannten Post Exchange, einem Einkaufszentrum mit amerikanischem Angebot, das nur von US-Soldaten, Reservisten, Veteranen und deren Angehörigen mit speziellen Ausweisen besucht werden konnte. Aha, mit uns scheint irgendetwas anders zu sein, dachte ich.

SCHULE In der Volksschule hat es einmal einen Vorfall gegeben, an den ich mich noch gut erinnere. Mich hat einer von den Buben als »Saujude« beschimpft. Und dem habe ich dann so eine geknallt, dass ihm die Brille auf den Boden gefallen ist, und die habe ich dann auch noch kaputtgetreten. So voller Wut war ich. Am nächsten Tag erschien dieses saubere Bürschchen mit seinem Vater in der Schule. Er wolle sich beschweren, ich hätte die Brille kaputtgemacht.

Mein Lehrer wollte dann natürlich wissen, was vorgefallen war, und dann habe ich das erzählt. Es hatten ja auch Klassenkameraden drum herum gestanden, die den Vorfall beobachtet hatten. Und dann hat dieser Lehrer wirklich vor versammelter Mannschaft diesen Vater so etwas von zusammengefaltet.

»Ist Ihnen eigentlich klar, woher Ihr Sohn solche Ausdrücke hat? Sie sollten sich schämen, anstatt hierherzukommen!«, hat er dem entgegengeschleudert. An dem Tag bin ich natürlich mit sehr breiter Brust von der Schule nach Hause gegangen.

ISRAEL Ende 1967 hat sich dann mein Vater noch einmal aufgemacht nach Israel wegen einer Art Konferenz für jüdische Geschäftsleute aus aller Welt. Das war nach dem Sechstagekrieg. Und es ging darum, wie man Israel wirtschaftlich unterstützen könnte. Er kam zurück nach Straubing und sagte nur. »Packt, wir gehen nach Hause.« Und ich dachte: »Hä, was ist denn jetzt los?« Immerhin steckte ich mitten in meinen Barmizwa-Vorbereitungen. Geschäftsidee meines Vaters war es, israelische Textilien in Deutschland einzuführen. Daraus ist dann zwar nichts geworden, weil keiner die Sachen aus Israel haben wollte, und meine Eltern und meine Schwester sind dann auch wieder zurück nach Straubing gegangen, aber ich bin geblieben. »Der Robby, der Bub«, so hat es geheißen, »der kann erst einmal in Israel bleiben.«

Mit dem Bindfaden-Asimon-Trick konnte man früher fast unbegrenzt lange von Israel aus telefonieren.

Also kam ich für zwei Jahre ins Internat nach Hadassim. Ein paar Dinge haben mich dort über meine Einsamkeit gerettet: Ruthi, eine Soldatin, die ihren Sozialdienst ableistete, mir Hebräisch beibrachte und mich wirklich mochte, der Ehemann einer Cousine meiner Mutter, der in Tel Aviv Apotheker war und mich in den Jazz einführte, und die Plattensammlungen von Mitschülern, die aus Kanada für ein Schuljahr nach Hadassim gekommen waren und deren Überseekoffer voller LPs steckten. Natürlich habe ich viel mit Straubing telefoniert. Mit dem Bindfaden-Asimon-Trick war das ja auch fast unbegrenzt lange möglich.

Drei Jahre später kam ich nach Deutschland zurück, machte in Straubing mein Abitur und sah erstaunt auf eine Welt, die mir ziemlich zurückgeblieben erschien. Und ich hatte meinen ersten Fernsehauftritt. Ralph Giordano hat damals einen Film gemacht, in dem er die kleinste jüdische Gemeinde in Deutschland, die Straubinger nämlich, der größten, der in Frankfurt, gegenüberstellte. In dem Film kam ich vor mit langen Haaren und Bart, einer selbstgestrickten roten Jacke und einem sehr bayerischen Zungenschlag.

Später habe ich dann alles Mögliche studiert, wurde von Marianne Rosenbaum für den Film entdeckt, spielte in ihrem Peppermint Frieden einen Schreinergehilfen und war persönlicher Assistent von Peter Fonda, dem »Mr. Frieden«, dem ich im Mercedes bei der Überlandfahrt von München nach Straubing »german food«, Presssack, Brezn und Bier nahebringen durfte. Nach der Erfahrung bei Peppermint Frieden war ich wild entschlossen, mit Film weiterzumachen.

USA Ich habe einiges ausprobiert, bin in den 80er-Jahren bei Herbert Achternbusch gelandet, war im Münchner Residenztheater in dessen Gust mit Sepp Bierbichler in der Hauptrolle die sterbende Lies. Was meine Karriere anbelangt, ließ mich der Riesenerfolg dieses Stückes nach oben fallen. Es folgten größere und kleinere Rollen am Theater und beim Film, sowohl feste Engagements als auch freie Produktionen.

Als dann das Geld reichte, bin ich nach Los Angeles gegangen und habe endlich eine richtige Ausbildung zum Schauspieler gemacht. Und kam dann, zurück in Deutschland, auch gut im Film unter, zum Beispiel bei Xaver Schwarzenberger.

Und irgendwann begann ich zu unterrichten, habe berufserfahrene Schauspieler, die dazulernen wollten, weitergebildet. Bis ich auch da wieder herauswollte, wieder in ganz unterschiedlichen Produktionen unterkam. Und seit vergangenem Jahr bin ich Künstlerischer Leiter vom »dasvinzenz«, einem kleinen Münchner Theater, das viele hier noch als »Theater Blaue Maus« kennen. Und es fühlt sich gut an.

Und Israel? Mit Israel bleibe ich verbunden. Ich reise immer mal wieder hin, auch mit meiner Tochter Gretel und meinem Sohn Joshi, die dieses Land mit all seinen Widersprüchen kennenlernen sollen.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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