Berlin

»Daran möchte ich mitwirken«

Kantor Isidoro Abramowicz über liturgische Tradition, Gebete und Ideen für die Synagoge Pestalozzistraße

von Gerhard Haase-Hindenberg  18.09.2019 10:47 Uhr

Bereitet sich seit Juni auf die Hohen Feiertage vor: Gemeindekantor Isidoro Abramowicz Foto: Margrit Schmidt

Kantor Isidoro Abramowicz über liturgische Tradition, Gebete und Ideen für die Synagoge Pestalozzistraße

von Gerhard Haase-Hindenberg  18.09.2019 10:47 Uhr

Herr Abramowicz, seit April amtieren Sie als Kantor in der Synagoge Pestalozzistraße, wo Sie zugleich auch Musikdirektor sind. Sind Sie mittlerweile angekommen?
Ich kann wohl sagen, dass ich angekommen bin. Normalerweise sind sechs Monate die Zeit, in der man sich unbewusst damit beschäftigt anzukommen, Menschen und die Arbeitsbesonderheiten kennenlernt. Das Ganze ist natürlich dadurch leichter, dass ich gute Kollegen und die volle Unterstützung der Rabbiner, Gabbaim und – das Wichtigste – der Beter habe.

Wie haben die Beter Sie aufgenommen?
Sehr gut. Es ist nicht einfach, in einer Synagoge anzukommen, und es dauert, bis man einander kennt. Aber ich spüre die Wärme und Liebe, die die Beter vor und nach den Gottesdiensten ausdrücken.

In zwei Wochen beginnen die Hohen Feiertage. Damit ist auch eine ständige Veränderung der Liturgie und der Melodien verbunden. Ganz zu schweigen von der physischen Anstrengung, die Jom Kippur für einen Kantor darstellt. Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Im Juni hatte ich die erste Probe. Ich fange also schon früh an, mich mit Machsor und den Melodien zu beschäftigen. Woran oft nicht gedacht wird, ist, dass man ja nicht nur die Melodien singt – man beschäftigt sich auch mit den Gebeten. Dafür muss man den Machsor perfekt kennen. Dadurch erst wird der Gottesdienst empfindsam. Im Vorfeld gibt es die Proben mit den Organisten und dem Chor und auch Gespräche mit dem Rabbiner. Es sind also viele Dinge, die man vorbereiten muss.

In Buenos Aires, der Stadt Ihrer Kindheit und Jugend, gibt es eine der größten jüdischen Gemeinden außerhalb Israels, zu der in den 30er-Jahren auch deutsche Emigranten beigetragen haben. Wenige Jahre später aber kamen auch ehemals hohe Nazi-Funktionäre ins Land. War in Ihrer Generation von diesem Spannungsfeld noch etwas zu spüren?
Nein, aber deren Antisemitismus hatte sich längst auf die normale Gesellschaft übertragen. Es gab ja schon in den 30er-Jahren in Argentinien viele Nazi-Sympathisanten. Im Netz kann man Fotos aus dem Jahr 1938 finden, von Großveranstaltungen mit Nazi-Flaggen im Luna-Park. Leute wie Eichmann waren nach dem Krieg also in Argentinien vielerorts willkommen. Selbst viele Parteifreunde von Präsident Péron hatten, wie er selbst ja auch, einen antisemitischen Hintergrund.

Wie haben Sie den Antisemitismus erlebt?
Nach einer orthodoxen Grundschule besuchte ich ein staatliches nichtjüdisches Gymnasium, und dort musste ich oft Beschimpfungen als Jude erleiden. Das kam nicht von Kindern mit einem Nazi-Hintergrund, sondern von normalen argentinischen Schülern, die von ihren Eltern und Großeltern beeinflusst waren.

Dennoch kamen Sie zur Ausbildung nach Deutschland.
Ich hatte in Buenos Aires zwei sehr gute Gesangslehrerinnen, und beide haben mir empfohlen, mit einigen Leuten in Köln zu arbeiten. Nachdem ich meine Gesangsausbildung und die für Chorleitung abgeschlossen hatte, habe ich in einer Gemeinde in Oldenburg angefangen, als Chorleiter zu arbeiten. Dort hat man gesehen, dass ich Hebräisch lesen kann, auch die Gebete kenne, und so habe ich als Vorbeter begonnen. Irgendwann bekam ich die Nachricht, dass in Berlin eine Kantorenschule eröffnet wird, und zwei Jahre später habe ich am Abraham Geiger Kolleg mein Studium begonnen.

Hat es für Sie emotional eine Rolle gespielt, in das Land zu kommen, in dem die Schoa geplant wurde?
Als ich nach Deutschland kam, war es für mich ein Schock, als ich am Bahnhof in Frankfurt und im Zug nach Köln die Durchsagen hörte. Ich verstand ja die Sprache noch nicht, aber mir wurde kalt bei diesem energischen Ton. Ich habe sofort an die Nazi-Zeit und an die Deportationszüge gedacht.

Der amerikanische Jazzmusiker David Friedman sagte einmal, er habe Berlin vom ersten Moment an als eine »jüdische Stadt« empfunden.
Das kann ich nachvollziehen. Heute sicher noch viel mehr, weil man so viele Stolpersteine sieht – gerade hier in Charlottenburg-Wilmersdorf. Man versteht sofort, dass das eine jüdische Stadt war. Heute sind wir Zeugen, wie neues jüdisches Leben entsteht, auch wenn es sicher noch Generationen dauern wird, bis es wieder die alte Blüte erreicht. Daran möchte ich mitwirken.

Nach Ihrem Studium amtierten Sie zunächst als Kantor in Stockholm. Dort brachten Sie viele Ideen ein – neben Konzerten für Chor, Orchester und Kantoren auch Projekte mit Kindern, Familien und Senioren.
Das entspricht meiner Weltanschauung, weil ich glaube, dass das einfach zum jüdischen Leben dazugehört. Im Moment bin ich noch damit beschäftigt, herauszufinden, wie die Synagoge Pestalozzistraße funktioniert und was mit den Betern hier möglich ist. Auch für die Pestalozzistraße habe ich diesbezüglich viele Ideen. Manches wurde vielleicht von meinem Vorgänger Itzik Scheffer anders gemacht – und auch schon von Estrongo Nachama. Derzeit bin ich sehr mit der Musik von Lewandowski beschäftigt, denn es ist doch ein großes Glück, dass in dieser Synagoge solch eine musikalische Tradition aufrechterhalten wird. Das gibt es sonst nirgends in diesem Maße wie hier.

Stellt für Sie, der Sie die Vielfalt der internationalen Synagogalmusik kennen, die Reduzierung ausschließlich auf die Musik von Louis Lewandowski nicht auch eine schmerzliche Einschränkung dar?
Ich wurde das oft gefragt, und ich antworte immer gleich: Diese musikalische Tradition zu bewahren, ist für mich eine Mizwa. Schließlich kann ich als Sänger mit anderer Musik viele Konzerte geben. Die Musik dieser Synagoge aber ist so repräsentativ, dass sie verloren geht, wenn wir sie nicht pflegen. In Argentinien ist das passiert. Ich bin mit dieser Musik groß geworden, aber heute singt man sie dort fast nicht mehr.

Ihre Abschlussarbeit schrieben Sie über die orthodoxe Frankfurter Tradition. Inwiefern hilft Ihnen die Beschäftigung damit bei Ihrem Amt in einer liberalen Synagoge?
Bei meiner Beschäftigung mit dieser musikalischen Tradition in Frankfurt hatte ich mir besonders die verschiedenen Melodien des Kaddisch im Laufe des Jahres vorgenommen, wie sie bewahrt wurden. Darüber hinaus habe ich mich mit der gesamten Liturgie und dem Nusach beschäftigt und dabei sehr viel gelernt. Die liberale Liturgie ist ein bisschen kürzer, aber wir beschäftigen uns mit sehr vielen Dingen, die vielleicht nicht aus Sicht der Halacha wichtig sind, wohl aber für unsere heutige Zeit. Es ist Teil des Judentums, dass wir einfach weitergehen. Entsprechend hat sich auch die Liturgie entwickelt. Die orthodoxe Liturgie sollte man kennen, aber man wird feststellen, dass sie hinter der liberalen zurückgeblieben ist.

Worin unterscheiden sich Liturgie und Nusach in Ihrer früheren Stockholmer Gemeinde von Ihrer jetzigen in der Pestalozzistraße, wo gibt es Gemeinsamkeiten?
Zunächst muss man wissen, dass auch die Stockholmer Synagoge einen deutschen Hintergrund hat. Als sie 1870 gebaut wurde, hat man eine Orgel aufgestellt. Kantor Leo Rosenblüth hat dort amtiert, und der kam aus Fürth. Er brachte die deutsche musikalische Tradition mit und hat dann auch selbst sehr viel komponiert. Heute hat die Gemeinde in Stockholm 4500 Mitglieder, und an den Hohen Feiertagen gibt es auch Gottesdienste mit Orgel und Chor. Hier in der Pestalozzistraße wurde diese musikalische Tradition ja nahezu komplett bewahrt. In Stockholm hingegen hat sich der Nusach leider sehr verändert. Es gibt dort eine Rabbinerin, die kaum mit Instrumenten arbeitet, das beeinflusst natürlich die Liturgie.

Seit Januar sind Sie auch Leiter der Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg. Wie schaffen Sie es, beide Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen?
Als Lewandowski zum Musikdirektor der Jüdischen Gemeinde ernannt wurde, hat er sich natürlich mit den Kantoren beschäftigt, aber er hat auch noch in einem Gymnasium und an einer Hochschule unterrichtet. Ich denke, das gehört dazu. Gemeinde und Kolleg sind zwar zwei verschiedene Institutionen, aber bevor ich hier anfing, war das schon abgesprochen, dass ich am Geiger-Kolleg unterrichten werde. Dort liegt schließlich die Zukunft der Kantoren und Kantorinnen in Europa. Es war dem Synagogenvorstand wie auch für das Geiger-Kolleg klar, dass es Flexibilität geben muss und ein Verständnis dafür, dass ich beide Aufgaben innehabe. Das verlangt viel Zeit und Energie – aber es macht Spaß!

Mit dem Kantor und Musikdirektor der Synagoge Pestalozzistraße sprach Gerhard Haase-Hindenberg.

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