Geschichte

Auf den Schultern von Riesen

Wer sollte die Geschichte, die Struktur, das Innenleben der Israelitischen Kultusgemeinde besser kennen als die langjährige Präsidentin, Charlotte Knobloch? Doch bei der Beantwortung der Frage, wer die wichtigsten jüdischen Persönlichkeiten in den 200 Jahren ihres Bestehens waren, kommt auch sie wegen der zahlreichen zur Auswahl stehenden Namen ins Grübeln. Den Blick auf das Ganze hat sie freilich dennoch nicht verloren. »Juden«, betont sie, »haben dazu beigetragen, München sein ganz eigenes, besonderes Gesicht zu verleihen.«

Auf dem Bürgerfest am 21. Juni, bei dem mehr als 6000 Münchner mit der Gemeinde und ihren Nachbarn das 200-jährige Bestehen und die Neugründung der IKG vor 70 Jahren feierten, wurden die Besucher auf dem Jakobsplatz von zehn Säulen überragt, die die IKG-Kulturabteilung unter Leitung von Ellen Presser aus Anlass des Jubiläums extra aufstellen ließ.

Die Säulen dienen der Information und erzählen anhand von Bildern und mehrsprachigen Texten die Geschichte der Juden in München und der IKG. Diese Idee, wie Ellen Presser beobachten konnte, findet bei den Passanten erstaunliches Interesse.

rangliste Es ist schwer zu sagen, ob Albert Einstein oder Max Littmann die Rangliste der prominentesten Münchner Juden, die auch zu Weltruhm gelangten, anführt. Beim Erstgenannten, dem Supergenie, das mit höchster Intelligenzausstattung und der Errechnung der bahnbrechenden Relativitätstheorie in den Olymp der Wissenschaften aufstieg, erübrigen sich weitere Erklärungen. Bei Max Littmann verhält es sich anders. Ihn kennen namentlich nicht sehr viele Menschen, aber das von ihm errichtete Hofbräuhaus ist weltweit ein Begriff.

Bei der Auflistung von Juden, die das Leben und die Entwicklung Münchens prägten und die Ellen Presser bei der Vorbereitung zum Bürgerfest »gesichtet« hat, machte sie ihrem Vornamen alle Ehre: Die Liste ist (Ellen)lang – und zwangsläufig immer unvollständig. Doch die Folgenden gehören ganz bestimmt auch dazu: Fritz Kortner, der legendäre Regisseur; Ernst Toller, Politiker und Schriftsteller; Alfred Neumeyer, Richter und Gründer des Verbands Bayerische Israelitische Gemeinde; Kurt Eisner, Bayerns erster Ministerpräsident; der Dirigent Bruno Walter; Erich Mühsam, ein schriftstellerischer Freigeist, der von den Nazis ermordet wurde; Lion Feuchtwanger, Weltliterat; Julius Spanier, Arzt und Mitbegründer der IKG nach dem Holocaust; Marie-Luise Kohn, Buchillustratorin; Lehmann Bernheimer, Gründer der gleichnamigen Kunsthandelsdynastie; Rechtsanwalt Elias Straus; Therese Giehse, die legendäre Brecht-Schauspielerin.

Charlotte Knobloch bringt die gesellschaftliche Präsenz von Juden und ihren Stellenwert für die Stadtgeschichte auf den Punkt: »Manchmal habe ich den Eindruck, als hätte es besonders viele jüdische Ärzte und Rechtsanwälte gegeben. Aber genau genommen bereicherten Juden das gesamte gesellschaftliche Leben: Wissenschaft, Kunst, Politik, Theater, Wirtschaft, Musik, Philosophie und Literatur.« Und amüsiert schiebt sie nach: »Nicht einmal der FC Bayern war vor uns sicher. Immerhin war Kurt Landauer ein beeindruckender Vereinspräsident und vor allem der erste, der den deutschen Meistertitel holte.«

Erinnerung Die Wiedergründung der IKG nur kurz nach dem Ende der NS-Herrschaft vor 70 Jahren ist ein weiterer Anlass zum Feiern. Frei von Nachdenklichkeit und schmerzhafter Erinnerung ist dieses Jubiläum indes nicht. Immerhin war die Wiedergründung nur deshalb notwendig geworden, weil die IKG von den Nazis zerstört wurde.

Charlotte Knobloch berührt der 70. Jubiläumstag der Wiedergründung emotional ganz besonders, und zwar aus zwei Gründen. Sie hat als Kind persönlich erlebt, was Ausgrenzung, Diffamierung und Antisemitismus bedeuten. Zudem spielte ihr Vater, Fritz Neuland sel. A. (1889–1969), der die Schoa überlebte, für die jüdische Gemeinde in München und die IKG, deren Präsident er bis zu seinem Tod war, im Trauma der Nachkriegszeit eine wegweisende Rolle.

»Für mich als Kind war es schwierig, zu verstehen, warum mein Vater nach dem Krieg in München bleiben wollte. Heute weiß ich es, weil es mir genauso geht. Ich bin Münchnerin, ich liebe München. München ist meine Heimat«, so Knobloch. Sie selbst überlebte den Krieg als Mädchen unter falschem Namen und konspirativen Umständen in Franken. Noch heute kann sie sich, als sei es gestern gewesen, an diese traumatische Zeit erinnern.

Akzeptanz Das Ziel der Juden in Deutschland habe sich in den vergangenen 200 Jahren grundsätzlich nicht verändert, findet Charlotte Knobloch. »Was wir Juden wollen, ist ganz einfach: volle, uneingeschränkte Akzeptanz. Das ist alles.« Die IKG-Präsidentin ist von den antisemitischen Anfeindungen, den Terroranschlägen, dem Nahostkonflikt, den vielen Krisenherden weltweit nicht unbeeindruckt geblieben, weil der Hass und der Antisemitismus auch Deutschland erreicht. Trotzdem glaubt sie an die Stärke der Demokratie. »Es ist schön, in so einem Land leben zu dürfen.«

Von der großen Zuneigung der Münchner zur IKG und den jüdischen Mitbürgern, die nicht zuletzt durch die große Resonanz beim Bürgerfest sichtbar wurde, ist Charlotte Knobloch absolut überzeugt. Von der Neugründung der IKG, von ihren eigenen Anfängen auf dem Chefsessel der IKG vor 30 Jahren bis zum Einzug ins Jüdische Gemeindezentrum auf dem Jakobsplatz war es dagegen ein langer Weg. »Ein Weg«, wie Charlotte Knobloch sagt, »der sich gelohnt hat. Wir sind im Herzen der Stadt angekommen.«

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