Pro&Contra

Brauchen wir ein »Polen-Denkmal«?

Dieter Bingen

Pro – Dieter Bingen: Die Würdigung der Opfer Polens im Zweiten Weltkrieg wäre eine wichtige Geste

Ein sichtbares Zeichen zu setzen für die Erinnerung und das Gedenken an die deutsche Vernichtungs- und Versklavungspolitik im Nachbarland Polen, die ihren Anfang mit dem Überfall der Wehrmacht am 1. September 1939 nahm – das war die Botschaft des bürgergesellschaftlichen Aufrufs vom 15. November 2017 zur Errichtung eines Denkmals für die polnischen Opfer der deutschen Besatzung 1939–1945 in der Mitte Berlins.

Von den ersten Tagen an war die deutsche Besatzungspolitik in Polen von massenhaftem Terror begleitet. Das Ziel war die Versklavung und Dezimierung der polnischen Zivilbevölkerung insgesamt, die gezielte Ermordung der polnischen Eliten und im Besonderen die systematische und vollständige Ermordung der Juden Polens.

Nachbarn Die größten deutschen Vernichtungslager, die vor allem für die jüdischen Polen und die europäischen Juden errichtet wurden, entstanden in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Deutschland im besetzten Polen. Das Nachbarland wurde das erste Experimentierfeld der nationalsozialistischen Tötungs- und Unterwerfungsmaschinerie, die später im gesamten europäischen Osten in Gang gesetzt wurde. Das ist ein Ballast, an dem kein anderes direktes Nachbarland Deutschlands mit dieser Schwere tragen muss – bis heute. Auch darin haftet den deutsch-polnischen Beziehungen etwas Einmaliges an. Die Folgen sind bekannt und in diesen Tagen weltweit in den Medien zu lesen.

Für das, was zuweilen polemisch mit einem unsäglichen Wort – »Opferkonkurrenz« – bezeichnet wird, hat die deutsche Besatzungspolitik in Polen gesorgt. Schließlich waren fast sechs Millionen Bürger der II. Polnischen Republik – Juden, Christen, Atheisten – als Opfer der deutschen Täter, Männer und Frauen, zu beklagen. Daran mit einem Denkmal zu erinnern, ist eine symbolische Geste, von der wir annehmen, dass sie allgemein verstanden wird. Ein solches Denkmal wäre eine Reverenz an die in 1000 Jahren entwickelte kulturelle Vielfalt, die Bürgerinnen und Bürger der II. Republik Polen bis 1939 lebten und die nach dem deutschen Überfall am 1. September 1939 von der NS-Herrschaft vernichtet worden ist. Uns geht es um Erinnerung nach dem bib­lischen Motto: nichts hinzufügen und nichts weglassen.

Für dieses Geschehen fehlt nicht nur ein öffentlicher Ort des Gedenkens, nein, es ist überhaupt eine Leerstelle im deutschen kollektiven Gedächtnis, weitgehend unbekannt im Gegensatz zu dem weiter verbreiteten Wissen über die Schoa. Deshalb ist eine symbolische Verdichtung des Gedenkens an die Zerstörung des polnischen Kosmos in einem Denkmal ein Zeichen, das Aufmerksamkeit weckt und geradezu dazu auffordert, unsere historische Bildung zur Füllung der beschämenden Wissenslücke zu vertiefen.

Kontext Es geht also um die Würdigung der Geschichte und des Platzes Polens in Europa und in unserem Bewusstsein. Es wird gegen dieses Denkmalprojekt argumentiert, dass heute ein solches Gedenken nur in einem größeren Kontext, nicht national, gedacht werden kann. Doch es würde nicht nur in Polen, sondern in jedem der östlichen Nachbarländer auf Unverständnis stoßen, wenn das individuelle Schicksal des eigenen Landes und seiner Einwohner im Zweiten Weltkrieg in eine historisch schlicht unzulässige Vorstellung eines osteuropäischen »Lebensraums« integriert würde. Vielmehr würde mit der Bezugnahme auf einen rassenideologischen Begriff (»Lebensraum«) eine Opfergemeinschaft auf der Grundlage der NS-Täterideologie konstruiert.

Selbstverständlich wäre auch ein Ort der Aufklärung und Erinnerung an die Opfer der sogenannten »rassischen Neuordnung« vor allem, aber nicht nur, in Osteuropa begrüßenswert. Das wäre ein potenziell ergänzendes Projekt, das an ein deutsches Publikum gerichtet wäre.

Ein Polen-Denkmal wäre vor allem eine demonstrative Geste gegenüber unserem direkten Nachbarn Polen, dem Nachbarn in Europa, mit dem Deutschland seit Jahrhunderten die intensivsten Beziehungen hat.

Armee Dieses wird bis heute in seiner Wirkmächtigkeit und Alltagsrealität nicht wirklich wahrgenommen und reicht von den fast zwei Millionen Menschen in Deutschland mit polnischem kulturellen, historischen, biografischen und sprachlichen Hintergrund bis hin zu einer Bundeskanzlerin, deren Großvater zu Ende des Ersten Weltkriegs Soldat in der polnischen Haller-Armee war, die für die Unabhängigkeit Polens kämpfte.

Diese in Europa wirklich einzigartige Verwobenheit zweier Nachbarn miteinander im Guten wie im Bösen macht das Abgründige deutscher Politik gegenüber Polen zwischen 1939 und 1945 umso unfassbarer. Die Polen-Denkmal-Initiative möchte ein sichtbares Zeichen in beide Richtungen setzen, nach Deutschland hinein und zum polnischen Nachbarn. Ein Zeichen, das bei den Überlebenden und den Nachfahren der Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft auf Sympathie und Berührung stoßen würde. Es wäre das geschichtspolitische Projekt, das sowohl in Deutschland als auch in Polen das politische Lagerdenken überwinden kann.

Dieter Bingen ist Politikwissenschaftler und Zeithistoriker. Er leitet das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt und ist Honorarprofessor an der Hochschule Zittau/Görlitz.

 

 

Stephan LehnstaedtFoto: Uwe Steinert

Contra – Stephan Lehnstaedt: Der Ort könnte Streit um ethnische Zugehörigkeiten befeuern

In Berlin ist die offizielle Gedenkpolitik für Opfer des Zweiten Weltkriegs in einer Sackgasse angekommen. Die vier großen Erinnerungsorte an NS-Verbrechen – für den Holocaust, die sogenannte Euthanasie, für Sinti und Roma sowie für Homosexuelle – sind gesellschaftlich verankert und erfüllen wichtige Funktionen der öffentlichen Erinnerung. Doch darüber hinaus sind Millionen von Toten im gesellschaftlichen Diskurs nicht präsent.

Das gilt etwa für die in deutscher Kriegsgefangenschaft gestorbenen Rotarmisten, für im »Bandenkampf« ermordete Zivilisten, für »Asoziale«, »Berufsverbrecher« oder Zeugen Jehovas. Diese Gruppen entsprechen Tatkomplexen der deutschen Vernichtungspolitik.

In diese Richtung geht auch die aktuelle Anregung für einen Gedenkort zur »Lebensraumpolitik«, die in ganz Osteuropa Millionen Opfer forderte. Es ist ein berechtigtes Anliegen, denn natürlich dürfen diese Verbrechen nicht vergessen werden: Deutschland als Land der Täter muss stets die Täterschaft mit berücksichtigen. In dieser Hinsicht sind Denkmäler mindestens so sehr für die Toten wie für die Lebenden.

Problematik Aber der Vorschlag zeigt auch die ganze Problematik unserer Erinnerungskultur. Sie reproduziert nationalsozialistische Kategorien und fragt nicht nach den Selbstwahrnehmungen der Opfer: Wer im Holocaust starb, den definierten die Deutschen als Juden; aber sah er sich auch selbst so? Wer wird sich als »Berufsverbrecher« identifiziert haben? Schlimmer noch, momentan priorisieren wir die Täterschaft sogar, indem wir einzelner Verbrechen (prominent) gedenken, anderer aber gar nicht.

Die Idee eines Polen-Denkmals verspricht eine andere Herangehensweise. Völlig zu Recht weisen die Initiatoren darauf hin, dass in unserem Nachbarland nicht nur drei Millionen jüdische Einwohner ermordet wurden, sondern auch fast annähernd so viele nichtjüdische Menschen. Die gezielte Vernichtung der polnischen Eliten setzte im September 1939 ein und wies bereits zu diesem Zeitpunkt die Merkmale genozidaler Verfolgung auf.

Bei Kriegsende waren rund sechs Millionen Bürger der zweiten Polnischen Republik tot. Beschämend wenig von diesen Verbrechen ist im Gedächtnis und Bewusstsein der heutigen Deutschen verankert. Dass hier etwas getan werden muss, ist offensichtlich. Mit der bisherigen Einordnung in Tatkomplexe kommt man jedoch nicht weiter.

Täterlogik Die Massenmorde in Polen waren zwar in vielerlei Hinsicht miteinander verwoben, aber hinter Kriegshandlungen, Einsatzgruppen, Aufstandsbekämpfung oder Umsiedlungen standen jeweils eigene Absichten. Darüber umfassend aufzuklären und zu informieren, wie das Gedenkstätten tun, ist von zentraler Bedeutung. Allerdings ist ein die Täterlogik aufhebendes »Polen-Denkmal« nur auf den ersten Blick eine unproblematische Lösung. Es gibt zwar nationalsozialistische Kategorien auf, handelt sich dafür aber geopolitische und nationale ein.

Das Polen der Vorkriegszeit hatte ganz andere Grenzen als heute. Wie sinnvoll ist es, der Toten eines so nicht mehr existierenden Staates zu gedenken? Natürlich ist die Grenzverschiebung eine Folge der deutschen Aggression, aber in dieser Sichtweise wäre auch ein Denkmal für die Sowjetunion konsequent, doch eines für die Ukraine nicht möglich, da sie damals nicht als eigenständiger Staat existierte. Das wiederum liefe de facto darauf hinaus, die Existenz ukrainischer Opfer zu negieren. Vorkriegspolen war ein ethnisch heterogenes Land. Unter den offiziell anerkannten Nationalitäten befanden sich neben Polen beispielsweise Juden, Litauer, Weißrussen, Deutsche oder Ukrainer.

Nationalität Das Polen-Denkmal soll inklusiv sein und alle diese Gruppen einbeziehen. Damit aber fände eine Zwangsvergemeinschaftung statt, weil Juden, Ukrainer und andere zu »Polen« würden. Für die Hälfte der Opfer des Holocaust gilt dann nicht die deutsche Identifikation als Juden, sondern diejenige als Bürger der zweiten Polnischen Republik. Über die Verluste anderer Minderheiten gibt es keine exakten Zahlen. Als grober Richtwert kann allerdings eine Schätzung des Historikers Czeslaw Luczak gelten, der insgesamt von fast einer Million Toten ausgeht. Ist nun der polnische Bürger ukrainischer Nationalität ein polnisches oder ukrainisches Opfer?

Man sollte dergleichen nicht als »unschädliches Mehrfachgedenken« abtun (abgesehen von der Tatsache, dass bisher gar kein Gedenken stattfindet). Im Gegenteil würde ein Ort, der eigentlich zum Frieden mahnt, die Auseinandersetzungen um ethnische Zugehörigkeit befeuern. Die blutigen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts um Nation und Bevölkerung in Ostmitteleuropa sind keine verheilten Narben und sorgen immer wieder für dip­lomatische Spannungen.

Weil zugleich unstrittig ist, dass polnische Opfer ein Gedenken verdienen, muss nach dem Wie gefragt werden. Reinhart Koselleck hat einmal geschrieben, dass diese Frage stets neue Antworten erfordert. Wir sollten uns also auf die Suche begeben. Es wäre gut, dabei den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht damals oder heute konstruierte Gruppen.

Stephan Lehnstaedt war Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Er ist Historiker und Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin.

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