Pessach

Der eigene Exodus

»Avadim hajinu lePharʼo beMizrajim, ata benei chorin« (Wir waren Sklaven beim Pharao in Ägypten. Nun sind wir frei). Schon im Kindergarten lernen jüdische Kinder dieses Lied, das sie auf Pessach vorbereiten soll. Dass sie verstehen, was sie singen, ist zweitrangig – es geht um das Ritual und die Wiederholung.

Jahr für Jahr wird im Vorfeld von Pessach und vor allem am Sederabend die Pessach-Geschichte gelesen. Die Erzählung von der Befreiung des jüdischen Volkes hat offensichtlich nur durch diese stete Wiederholung überlebt. Der Auszug aus Ägypten und die Erzählung davon formen die jüdische Identität bis ins Innerste. Jüdisches Leben ist stark an dieses Freiheitsmotiv geknüpft. Doch häufig wurde es durch die Geschichte gestört. Vermutlich erzählt man sich auch deshalb diese Befreiungsgeschichte Jahr für Jahr aufs Neue.

Was Befreiung für den Einzelnen heißt, entscheidet jeder selbst. Es gibt die innere und die äußere Befreiung und die Befreiung in sozialer, kultureller, religiöser, politischer und rechtlicher Hinsicht. Die eigene Biografie ist maßgeblich daran beteiligt, was wir als Freiheit betrachten.

Die folgende persönliche Geschichte der Künstlerin und Psychiaterin Eve Stockhammer, die mit ihrem Partner in Bern lebt, ist ein Beispiel dafür, dass die Pessach-Geschichte nicht nur dazu auffordert, sich mit Befreiungskämpfen zu beschäftigen, sondern dass sie vermutlich auch dazu beitragen kann, die eigene Identität zu finden.

»Aufgewachsen im zwinglianischen Zürich der 60er-Jahre, als Tochter einer heimlich jüdischen Mutter mit israelischem Pass und einem Weihnachten feiernden Atheisten, dauerte das, was man Identitätsfindung nennt, bei mir einige wirre Jahrzehnte«, erzählt die heute 61-Jährige. Zu Hause habe man über die Schoa als historische Tragödie und ohne persönlichen Bezug gesprochen. Und so sei auch der Schabbat genauso ein Fremdwort gewesen wie Pessach oder Chanukka.

Die Künstlerin erinnert sich, wie sie und ihre Geschwister als Kinder Ostereier bemalt hätten, »um sie später beim landesüblichen ›Eiertütsch‹ wieder zu zerschlagen«. Dass sie einen jüdischen Mann heiratete und ihre eigenen Kinder jüdisch erzog, habe ihre Mutter nicht verstehen können.

»Nach meinem 50. Geburtstag führten mich Albträume und Bilder zur vertieften Auseinandersetzung mit der Schoa«, erzählt Stockhammer weiter. »Ich verstand mich ganz und gar als jüdisch. Doch der Zugang zum gelebten Judentum blieb mir weiterhin fremd.« Erst heute versteht Eve Stockhammer, dass ihre jüdische Identität sich nicht nur auf die tabuisierte Verfolgungsgeschichte ihrer Mutter gründet, sondern natürlich gelebt werden kann. »Die Mazzekneidlech, die schon lange den Eiertütsch meiner Kinderstube ersetzt haben, schmecken nicht nur köstlich, sie berühren mich auch emotional. So bin ich zu meiner eigenen Pessach-Befreiungsgeschichte gekommen.«

Zwischen Reiz und Reaktion

Für die Züricher Psychotherapeutin Vivi Blum stellt der Auszug aus Ägypten »eine Metapher für die Befreiung innerer Lasten und Konflikte dar, wie wir sie nur erreichen können, wenn wir sie erkennen und individuelle Bewältigungsstrategien dazu entwickeln«. In ihrem Beruf sei sie früh auf die Denkschule des Wiener Psychiaters und Auschwitz-Überlebenden Viktor Frankl gestoßen, erzählt die 42-Jährige.

Frankl geht davon aus, dass zwischen Reiz und Reaktion ein Raum liegt. »Auch unsere tiefliegenden persönlichen und kollektiven Traumata sorgen dafür, wie unsere Reaktionen gesteuert werden. Durch das Ausweiten dieses Raums können wir lernen, bewusster zu denken, zu handeln und zu fühlen und dadurch unsere Reaktionen auf auslösende Reize besser zu steuern.« Dies sei ihr persönliches, inneres Moment des Auszugs aus Ägypten, so Blum.

Die eigene Biografie ist maßgeblich daran beteiligt, was wir als Freiheit betrachten.

Sie weiß, dass es dazu viel Arbeit bedürfe. Mit Blick auf den Krieg in Gaza sagt Blum: »Der 7. Oktober hat ein durch die Verfolgungsgeschichte und vor allem durch die Schoa transgenerationales Trauma des jüdischen Volkes reaktiviert. Wir, als Individuen und als jüdisches Volk, dürfen nicht zulassen, dass Traumata Oberhand gewinnen, uns steuern.« Diese Befreiung zu erlangen, sei für sie als Enkelin von Holocaust-Überlebenden, die seit der Kindheit damit in Berührung kam, gerade aktuell eine große Herausforderung.

»Wenn wir uns unseren individuellen und kollektiven Lasten, unseren inneren und äußeren Bedrohungen widersetzen und Stopp sagen – so wie damals die Israeliten, als sie sich aus der Knechtschaft des Pharaos lösten –, dann kann es uns gelingen, frei zu sein.«

Seelische Freiheit

Der Zürcher Religionspädagoge Michel Bollag weist darauf hin, dass ein seelischer Befreiungsschlag auch ohne physische Befreiung möglich ist. Für den 72-Jährigen ist es einer dieser Aspekte, »der uns dieses Jahr besonders beschäftigt in Anbetracht des Krieges und der gefangenen Geiseln«. In Israel sei von den Familien einiger Geiseln eine neue Haggada veröffentlicht worden, welche die traumatisierenden Ereignisse des 7. Oktober in die Geschichte der Versklavung und Befreiung aus Ägypten einbezieht, erzählt er.

Hinzu käme die religionspädagogische Auslegung dieses Freiheitsmythos, sagt Bollag, der viele Jahre lang Co-Leiter des Züricher Lehrhauses war. »Der Seder, der alljährlich nach klarer Dramaturgie als Auftakt von Pessach stattfindet, enthält wahrlich eine Pädagogik der Freiheit.« Das Setting funktioniere nach genauen Vorgaben und orientiere sich am griechisch-römischen Symposium – absichtlich umgekehrt: So stellt nicht der Seder-Gebende die Fragen, sondern die Jüngsten der Tischrunde. Zudem integriert der Ablauf alle Sinne und verlangt jedem einzelnen Teilnehmer viel Gedankenarbeit ab.

Ein weiterer Aspekt sei die Tatsache, dass die Form des Seders, wie er heute gefeiert wird, ursprünglich in der Galut, dem römischen, römisch-christlichen und persischen Exil, entstanden sei. »In einer Zeit, in der das jüdische Volk alles andere als frei war, sagten die Juden bewusst: ›Wir lösen uns aus dieser Knechtschaft. Wir wollen frei sein.‹ Auch hier wird die gedankliche Freiheit vorausgesetzt, um physische zu erlangen.«

Raum für die Familie

Freiheit auf einer ganz persönlichen Ebene erlebt derzeit die Züricher Lehrerin Valérie Navé. Für sie findet die Pessach-Geschichte im Familiären statt. »Mein Mann und ich haben soeben die Schlüssel für unsere neue Wohnung erhalten«, erzählt die 35-Jährige. »Wir haben zwei kleine Kinder und wünschen uns seit längerer Zeit mehr Platz zum Wohnen. Wir mussten lange auf die Zusage warten. Als wir bei der Schlüsselübergabe vor einer Woche die neue Wohnung betraten, erfüllte mich ein Freiheitsgefühl, das ich so bisher nicht gekannt hatte.« Unmittelbar vor Pessach auf einmal so viel mehr Raum für sich als Familie zu haben, sei ein kleiner persönlicher Befreiungsschlag.

Dann wird Valérie Navés Ausdruck ernst. Sie erzählt: »Exakt am 7. Oktober erhielten wir die Zusage für die Wohnung. Ein paar Stunden, nachdem Israel der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, hatten wir, mein Mann, der Israeli ist, und ich, ein neues Dach über dem Kopf. Uns wurde also Freiheit bestätigt, während mehr als 1000 Menschen ungefragt aus dem Leben gerissen oder in Geiselhaft genommen wurden. Jede und jeder von ihnen hätten genauso Anrecht auf ein freies Leben, wie wir es haben.«

Der 7. Oktober beschäftigt auch Lea Abenhaim Halpern. Dass gedankliche Freiheit auch heißen würde, dieses aktuell ständige Besorgtsein vor dem Hintergrund des Krieges wieder ablegen zu können, berichtet die Berner Ärztin. »Meine und vermutlich unser aller Freiheit wäre es, wenn wir in der Nachbarschaft wieder unbeschwert erzählen könnten, dass wir in den Ferien in Israel waren, wenn die Kinder ihre Ketten mit dem Davidstern tragen und wenn israelische Kinder unbeschwert auf der Straße oder im Bus Hebräisch sprechen könnten.« Dies ist für Abenhaim momentan unvorstellbar. Der Alltag sei von Angst und Sorgen belastet.

Frei im Denken

Frei sein im Sinne von »gelöst sein von Angst« ist ein wichtiger Aspekt für den Israeli Shmuel Grünberg. Der heute 77-Jährige lebt seit Jahrzehnten in Zürich. Für ihn entspricht Freiheit, besonders im Hinblick auf Pessach, dem Gefühl, keine Angst zu haben, etwas zu riskieren.

»Ich habe glücklicherweise immer in Freiheit gelebt. Und ich hatte ebenso immer das Privileg, etwas bewirken zu können, wenn ich es wollte. Auch meine Gedanken sind immer frei. Diese Freiheit kann niemand unterbinden.« Ein wirklich freies Leben sei aber nur möglich, wenn wir in einer Staatsordnung leben, in der Angst und Repressalien keinen Platz haben, sagt er.

»Ein seelischer Befreiungsschlag ist auch ohne physische Befreiung möglich.«

Religionspädagoge Michel Bollag

Juden denken an Pessach daran, dass die Israeliten aus Ägypten gezogen sind. Ob sie dies tatsächlich taten, ist für Shmu­el Grünberg nicht relevant. »Was zählt, ist die metaphorische Angelegenheit, dass ein ganzes Volk jenen bedeutenden Schritt wagte, eine Veränderung herbeizuführen.«

Grünberg, der nach wie vor als Zahnarzt praktiziert, sieht auch in der Interpretation der Tora ein großes freiheitliches Moment. »Wir haben keine Vorgaben für das Verständnis der heiligen Texte«, sagt er, »wir sind frei zu interpretieren, zu hinterfragen oder zu erklären. Jeder ist frei zu glauben. Dazu bin ich nur fähig, weil ich frei bin zu denken.«

Baku/Malmö

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