Tora

Wie die Widder

Wir alle kennen die Geschichte. Es ist eine der herausforderndsten in der gesamten Bibel. Sie wird an Rosch Haschana gelesen und sieben Wochen später im Toraabschnitt »Waje-
ra«: die Ge-schichte von der Bindung Isaaks, Akeidas Itzhak.
G’tt bittet Abraham um das größtmögliche Opfer, seinen eigenen Sohn dem Schöpfer zurückzugeben. Als Abraham kurz davorsteht, dies zu tun, ruft G’ttes Engel: »Erhebe deine Hand nicht gegen den Jungen, füge ihm kein Leid zu.« Nun kommt die bekante Szene: »Und Abraham blickte nach oben, und siehe da war ein Widder, der sich mit seinen Hörnern im Dickicht verfangen hatte« (1. Buch Moses; 22, 12-13).
Welche Bedeutung hat der Umstand, dass der Widder sich mit beiden Hörnern verfangen hatte? Und warum musste Abraham seine Augen nach oben richten, um den verfangenen Widder zu sehen?
Seit Abraham seinen Sohn opfern sollte ist das Leben des jüdischen Volkes nie rei-
bungslos verlaufen. Bis zum heutigen Tag. Die jüdische Erfahrung war nie eine einfache ruhige Kreuzfahrt auf den Wogen der Gelassenheit. Seit Abraham im Jahr 1948 unserer Zeitrechnung geboren wurde, bringt die jüdische Existenz verborgene Saiten, positive und negative, im Herzen der Menschheit zum Klingen. Niemand ist passiv und gelassen, wenn es um Juden geht, anders als zum Beispiel bei Hindus oder Buddhisten. Jüdisch zu sein bedeutet stets, den Mut zu haben, viele Prüfungen zu bestehen.

Opfer Jüdisch zu sein ist immer verbunden mit Herausforderungen und Opfern, großen und kleinen. Zum Beispiel, wenn ein Mann die Frau seiner Träume heiraten will oder eine Frau mit dem Traummann den Rest ihres Lebens verbringen will. Doch was, wenn der oder die Auserwählte nicht jüdisch ist? Tief drinnen hört man dann eine Stimme, die sagt, es nicht zu tun – dies ist tatsächlich ein Opfer.
Andere hatten als Kind keine Brit und holen dies nun als Erwachsene nach. Dies ist ein wenig schmerzhaft – ein Opfer. Einige schicken ihre Kinder auf eine jüdische Schule, um ihnen eine jüdische Erziehung und eine tief verwurzelte jüdische Identität zu ermöglichen. Das ist nicht immer einfach, und auch ein gewisses Opfer. Ich kenne Studenten und andere, die aufstehen und protestieren, wenn die populäre Rhetorik gegen Israel ertönt, voll von falschen Informationen und verzerrten Wahrheiten. Auch dies ein Opfer. Und ich kenne die süßen kleinen Kinder, die im Dezember zu ihrer Mutter kommen und weinen: »Mami, können wir nicht auch einen Baum für die Feiertage haben?«. Wenn die Mutter dann antwortet: »Nein, können wir nicht, weil wir Juden sind.« Auch das ein Opfer.
Wiederum andere haben begonnen, nach den Gesetzen der Kaschrut zu leben. Die neuen Essgewohnheiten, die Speisenzubereitung, die Veränderungen in der Kü-
che. Und dann der Verzicht, mit den alten Freunden die vertrauten Restaurants und Lokale nicht mehr aufsuchen zu können. Ein weiteres Opfer.
Oder die, die begonnen haben, den Schabbat etwas konzentrierter zu begehen. 24 Stunden auf Blackberry, i-Phone, E-Mail, Facebook oder Twitter verzichten. Die am Samstag nicht einkaufen oder ins Kino gehen. Die Freitagabend Kerzen zünden, gefolgt vom Kiddusch und einem festlichen Mahl – egal, wie viel Arbeit im Büro wartet. Auch dies ist ein Opfer.
Und nicht zuletzt diejenigen, die neuerdings jeden Morgen Tefillin legen und Morgengebete sprechen. Früher sind sie vielleicht noch vor dem Büro ins Fitnessstudio gegangen. Heute geben sie G’tt und ihrer Seele die kostbaren Minuten am Morgen. Auch das ist ein Opfer. Und selbst diejenigen, die das alles noch nicht tun, müssen oft genug für unser Volk und unser Land aufstehen – für Israel, unseren Glauben, die unpopuläre Meinung vertretend, die Minderheit.

Last Manchmal stellen wir uns die Frage: Warum müssen wir diese Last tragen? Warum müssen wir anders sein? Warum müssen unsere Kinder in einer Welt aufwachsen, in der so viele Menschen ihnen die Schuld für all das Schlechte auf dem Planeten geben, vom Sudan bis zur globalen Erwärmung, von der Rezession bis Afghanistan?
Warum muss das Schicksal der Juden so anders sein? Oder wie es Tewje in Anatevka sagt: »G’tt! Ich weiß, wir sind das auserwählte Volk. Aber könntest Du nicht ab und zu mal ein anderes Volk auserwählen?« Wäre das Leben nicht einfacher, glücklicher und friedlicher ohne die Last des Jüdischseins? Wer braucht die jüdische Schuld?
Man kann sagen: Mir reicht’s. Ich kann die Namen von Pharao, Haman, Hitler und Ahmadinedschad nicht mehr hören. Ich habe keine Lust mehr, die Bedeutung jedes jüdischen Feiertages zu verstehen, die sich so kurz zusammenfassen lässt: »Sie haben versucht, uns umzubringen, wir haben ge-
wonnen, nun lasst uns essen gehen.«

Frage Als Abraham plötzlich davor be-
wahrt wird, das Opfer zu bringen – das größtmögliche Opfer, das von einem Menschen verlangt werden kann –, hält er inne, und stellt sich die schicksalhafte Frage: Warum ich? Wofür? Warum musste ich 100 Jahre darauf warten, einen Sohn zu bekommen, nur um ihn dann zu opfern? Während mein Bruder Nachor acht Kinder hat, ohne Probleme und Rückschläge – wie die Tora genau nach der Akeida-Geschichte berichtet?
»Vielleicht, nur vielleicht«, denkt sich Abraham – und so auch der »kleine Abraham« in uns, »vielleicht ist Assimilation keine so schlechte Idee? Vielleicht höre ich Stimmen, und ich bin kein Prophet? Vielleicht kann ich ein für allemal diese Last loswerden?« Plötzlich hebt Abraham seine Augen. Er sieht einen Widder, der sich im Dickicht verfangen hat. Er versucht seinen eigenen Weg in der Wildnis zu gehen, aber schafft es nicht. Er versucht zu fliehen, aber verfängt sich immer wieder aufs Neue. Und mit jedem Versuch verfängt er sich nur noch mehr.
Der Widder dient als physische Metapher für Abraham und seine Nachfahren. Er steht für den Juden, der über das Schick-
sal jüdischer Identität nachdenkt. Wir sind ein Volk, das sich oft verfängt, verfangen in einem Gebüsch der Selbstzweifel, Unsicherheit und Verwirrung.

Bekenntnis Es gibt einen alten Witz über einen Hauptmann, der versucht, die Religion seiner Männer zu bestimmen. Er ruft jeden einzelnen auf, und jeder kommt nach vorne und sagt: »Jones, katholisch.« »O’Donnel, evangelisch.« »Abdulla, Muslim.« Dann wird Davidson aufgerufen. Davidson! Der Gefreite tritt nach vorne und stottert: »Nun ja, Hauptmann, meine Familie war nicht wirklich religiös, wir haben einige Traditionen eingehalten, aber meistens haben wir…«. Der Hauptmann unterbricht ihn und sagt: »jüdisch!«.
Wir sind ein seltsames Volk. Frage ei-
nen Katholiken ob er katholisch sei, und ihr bekommt eine klare Antwort: ja, nein, oder nicht mehr. Frage einen Protestanten, und ihr erfahrt seine Glaubenszugehörigkeit. Fragt einen Juden. Er wird eine Ge-
genfrage stellen: »Was meinst du damit?«
Christen können ganz gut erklären, was es bedeutet Christ zu sein. Muslime können erklären, was es bedeutet Muslim zu sein. Und obwohl es in jeder Gruppe verschiedene Meinungen gibt, scheint jüdisch zu sein hauptsächlich darin zu bestehen, auf der Suche nach einer Antwort zu sein.
Ein kluger Mann hat mal bemerkt, dass ein Jude einer von 18 Millionen Menschen ist, die auf der Suche nach einer Definition sind. Er hat recht. Wir sind ein Volk, dessen Selbstverständnis nebulös, persönlich und oftmals widersprüchlich ist. In einigen Dingen sind wir »sehr jüdisch«, und in anderen Dingen »nicht so jüdisch«. Wenn einer fragt »sind Sie jüdisch?«, reagieren wir instinktiv – je nachdem wer die Frage stellt. Wir antworten mit einem Seufzer, mit einem schuldigen Schulterzucken, ei-
nem defensiven Blick, oder einem Lachen.
Zu viele Juden fühlen sich niemals wirklich wohl in ihrer Haut. Wir haben Angst, »zu jüdisch zu klingen«. Doch andererseits sind wir entrüstet, wenn sich ein anderer Jude »zu gojisch« gibt. Ich habe noch nie von einem Italiener gehört, der sich sorgte, »zu italienisch« zu klingen.

Widersprüche Der Widder oder der Jude sind oftmals verfangen, aufgeteilt, be-
frachtet mit Widersprüchen und gegensätzlichen Gefühlen. Bin ich ein Stammeszugehöriger oder ein Universalist? Bin ich Atheist oder ein Gläubiger? Oder beides in einem. Der Widder ist verfangen, weil er versucht, vor sich selbst zu fliehen. Und wann immer man vor sich selbst wegrennt, verfängt man sich immer mehr.
Warum schaffen es Menschen nicht, die von Albträumen geplagt werden, ihren nächtlichen Verfolgern komplett zu entkommen? Im Albtraum glaubt man im-
mer ein gutes Versteck gefunden zu ha-
ben, aber der Schütze entdeckt einen plötzlich, er zieht den Abzug und … just in diesem Moment wacht man schweißgebadet auf. Warum träumt man eigentlich nie, dass man dem Horror entfliehen kann, und dann für immer in Sicherheit ist?
Die Antwort ist einfach: Der Verfolger in den Träumen ist man selbst! Es ist nur eine Seite, die man bislang unterdrückt hat. Und davor kann man nie wegrennen, weil einen das Selbst immer begleitet. Daher kann sich auch niemand vor dem inneren Verfolger im Traum verstecken.
Der Jude – vom Widder auf dem Berg Moriah repräsentiert – trägt in seiner Psyche zwei Hörner: Eines erinnert uns daran, woher wir kommen, das andere sagt uns, wohin wir gehen. Am Sinai wurde uns die Tora anvertraut, eine Bedienungsanleitung, um die Welt zu heilen. Um die immanente Einheit in jedem Menschen sowie in der ganzen Menschheit zu offenbaren und die Welt, Schritt für Schritt, zur Erlösung zu führen, zur Ankunft des Messias.
Am Sinai wurden wir aufgefordert, die Verblendung des Materialismus zu durchdringen, die die innere Seele jedes Menschen und die innere Seele der Welt ausblendet. Die gesamte Tora und jede Mizwa lehrt uns, wie wir an unsere innere Seele herankommen, und an die innere G’ttlichkeit des Universums. Unsere Pflicht ist es, diese Wahrheit in der Welt zu verbreiten, durch die Art, wie wir leben, die Art, wie wir mit anderen Menschen umgehen, die Art, wie wir unsere Kinder und unsere Nachbarn behandeln, bis die ganze Welt die Wahrheit bekunden wird, dass G’tt Einer ist, und Sein Name Eins, Haschem Echad Uschemo Echad».

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