hans keilson

»Unschuld? Nebbich!«

Herr Keilson, haben Sie je über Ihr Gesicht nachgedacht?
Keine Sekunde.

Es hat sich wenig verändert im Lauf von Jahrzehnten.
Das sagen viele Leute. Ich selbst kann dies nicht beurteilen. Wahrnehmung ist für mich ein globales Erlebnis. Das Sein in allen Dimensionen, durch das ich etwas über mich oder andere erfahre. Auch bei meinen Patienten war dies so. Wenn ich ihnen zuhörte, ihre Welt erlebte, war ich körperlich anwesend, geistig aktiv und im Lauf der Zeit imstande, in verschiedenen Dimensionen mit ihnen zu kommunizieren. Das Erleben war dabei zentral immer eins.

Gibt es Momente, in denen Sie sich selbst sehr nahe sind?
Vermutlich, wenn ich, wie jetzt im Gespräch, auf eine Frage hin mit einer Antwort beschäftigt bin. Dieser Prozess – eine Antwort in mir zu finden – ist vielleicht der Kern meines Selbst.

Wann wurde Ihnen erstmals bewusst, dass Jüdischsein Ausgrenzung hervorrufen kann?
In meiner Kindheit, beim Spielen, als ich ein Kind zum anderen sagen hörte: »Du, der Jude hat nur ein Ei.« Daran lässt sich erkennen, dass der vermeintliche Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden bis ins Biologische gedeutet wurde. In der Pubertät wurde mir bewusst, dass man den Juden die Sündenbock-Rolle zugewiesen hatte, auch an die Ermordung Rathenaus 1922 kann ich mich erinnern.

1928, nach dem Abitur, siedelten Sie 18-jährig nach Berlin über. Warum?
Weil ich von dort aus an den Wochenenden nach Freienwalde zu meinen Eltern fahren konnte. Und weil meine Schwester in Berlin studierte. Außerdem hatten wir dort Familie. Parallel zum Medizinstudium intensivierte ich meine Kontakte zum jüdischen Sportbund und beschloss, eine Ausbildung als Turn- und Schwimmlehrer zu machen. Ich wollte etwas haben, das mich aufbaute. Zudem war ich mir der Gefahren bewusst, die mich in Berlin, einer Großstadt mit allen Freizügigkeiten und Verleitungen, erwarteten.

Wie war Ihre Ankunft in Berlin?
Ich trug nur einen Koffer bei mir. In der Nähe des Halleschen Tors bezog ich ein Zimmer. Ich war der einzige Untermieter bei einer jüdischen Lehrerin, die an der jüdischen Mittelschule in der Großen Hamburger Straße, wo auch ich später tätig wurde, unterrichtete. Eine reizende ältere, sehr mütterliche Frau, die mich wie einen Sohn umsorgte und verpflegte. In der Universität begegnete ich Leuten, die wie ich gerade angekommen waren. Ich ging sehr gerne ins Theater, in den Beethoven-Saal, die Philharmonie. Später habe ich mir mit Jazzmusik mein Studium verdient, im Sportpalast, in der Krolloper, auf großen Festen Trompete geblasen oder Geige gespielt. Dann schrieb ich mein erstes Buch »Das Leben geht weiter«. Ich wurde erwachsen in Berlin.

Ihr Roman wurde 1933 als letztes Buch eines jüdischen Autors bei S. Fischer verlegt. Was bewog Sie, den finanziellen Niedergang des väterlichen Geschäfts und der Republik zu Papier zu bringen?
Entscheidend war für mich herauszufinden, welche Rolle ich in meiner eigenen Geschichte spielte, wer ich war: Jüdisch, von antisemitischem Hass und wirtschaftlicher Not umgeben. Es war eine Zeit des Erwachens für mich – geistig, körperlich, gesellschaftlich, auf vielen Ebenen. Darüber zu schreiben, bot mir die Möglichkeit einer Bewusstseinsentwicklung.

Nicht, wie Sie später bekannten, die Hoffnung auf Ruhm, Ehre, Unsterblichkeit?
Das habe ich vielleicht im Scherz gesagt, aber doch die Wahrheit gut gekannt.

Um dieselbe Zeit begegneten Sie Ihrer späteren Frau, Gertrud Manz.
Ja, wir lernten uns 1933 bei einem Kommilitonen kennen. Sie war sieben Jahre älter als ich und Grafologin, hatte etwas Psychoanalytisches, ohne selbst analysiert worden zu sein. Als sie Anfang der 30er-Jahre Hitlers Handschrift zum ersten Mal sah, sagte sie: »Dieser Mann wird die Welt anzünden.« Und er hat sie angezündet oder zumindest versucht, sie anzuzünden.

Wie wirkte sich seinerzeit die zunehmende politische Radikalisierung auf Ihren studentischen Alltag aus?
Soweit ich mich erinnere, wurde ich persönlich nie angegriffen. Aber ich sammelte Erfahrungen, die, weil ich Jude war, eine spezifische Bedeutung für mich hatten. Ich be- mühte mich, meine Studien zu vollenden, ohne ein Opfer zu werden wie so viele andere, die gescheitert waren oder emigrierten. Zugleich hatte ich eine starke Tendenz, die Wirklichkeit zu ignorieren. Es lebte sich leichter mit einer Täuschung. Auch die Deutschen haben sich getäuscht, sonst hätten sie Hitler nie die Macht gegeben.

Wie konnten Sie einen meisterlich analytischen Roman schreiben, ohne die politische Realität zu kennen?
Eine sehr zentrale Frage. Ich wagte es nicht, literarisch in politische Diskussionen und Konflikte einzugreifen, der Druck durch die Nazis war zu stark. Mein Wunsch war es, mit jemandem, der anderer Meinung war, Musik zu machen, Beethoven, Händel, Bach zu spielen, die Kadenzen von Kreisler oder den Teufelstriller von Tartini. So hielt ich es auch im Umgang mit meinen Schülern. Wenn es Streit zu schlichten gab, machte ich mit ihnen vorzugsweise Musik.

Durch Ihre Tätigkeit als Sportlehrer, Pädagoge und Berater hatten Sie seit 1934 in verschiedenen jüdischen Institutionen in und um Berlin zu tun.
Ja, und wie andere Lehrer versuchte ich, meinen Unterricht so zu gestalten, dass die Kinder, auch draußen auf dem Sportfeld, Freude daran hatten und entspannen konnten. Sich von Konflikten fernzuhalten, sich nicht von Ängsten und Problemen einschüchtern zu lassen, war eine wichtige Losung. Eines Tages, so hofften wir, würde es den Deutschen vergolten – auch wenn wir traurig dabei waren.

1935 kam der Tag, an dem Sie Ihre Koffer packten.
Die hatte ich schon viel früher, im Geiste, gepackt. Es gab ein Abschiedsessen mit den Eltern; mir war nicht klar, dass es das letzte sein würde. Dann machte ich mich auf den Weg. In Amsterdam wurde ich am Bahnhof von deutschen Freunden, Emigranten, abgeholt. Gertrud war bereits im Lande, arbeitete als Grafologin. Als ich besser Holländisch sprechen konnte, betreute ich Kinder, trieb Sport mit ihnen. Dann fragte man mich, ob ich interessiert sei, der illegalen »Freien Gruppe Amsterdam« zu helfen. Ich sollte Familien aufsuchen, in denen sich Konflikte zwischen Eltern und untergetauchten Kindern entwickelten. Ich sagte ja, ohne zu fragen. Anderthalb Jahre habe ich das getan, mit einem neuen, gut gefälschten Pass.

Unter Lebensgefahr.
Ja, aber Leben ohne Gefahren gibt es nicht.

Haben Sie später erkannt, in welchem Maße die Jahre von Leid und Verfolgung auf Ihr Wesen, Ihre Persönlichkeit eingewirkt und diese verändert haben?
Insofern, als jeder Mensch aus der Tatsache heraus, dass er lebt, die Möglichkeit hat, auf Negatives positiv zu reagieren. Sie wissen, dass ich als Arzt, auch als Psychoanalytiker, ein wissenschaftliches Werk geschrieben habe. Es ist ein Beweis dafür, dass ich trotz aller Schrecknisse etwas schaffen konnte, das einige Zeit überdauert.

Inzwischen leben Sie seit fast 75 Jahren in Holland. Heimat ist für Sie ...
... nicht Deutschland.

Heimat, so Jean Améry, ist das Kindheits- und Jugendland. »Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener.«
Nein, das hat Hitler nicht erreicht. Hitler war ein Verlorener. Heimat heißt auch, dass man sich heimisch, zu Hause, geborgen fühlt, akzeptiert wird. Dass ich dies vom Gefühl her formulieren, mich damit auseinandersetzen kann, hebt keine Zerrissenheit auf, dennoch bin ich erwachsen geworden und unzerstört und bis zu einem gewissen Grade geheilt. Ich bin in Deutschland groß geworden, habe Musik, Literatur, Sport, alles grundlegend in Deutschland erlebt. Mich interessiert die Politik, die Deutschland macht, das Bild der Deutschen in der Welt. Aber mein Zuhause ist in Holland.

Würden Sie auf das heutige Deutschland vertrauen?
Ich vertraue auf die Reaktionen seiner Verbündeten, die als überfallene Nationen ein ähnliches Schicksal teilen und sich an ihre Geschichte, an das, was geschehen ist, erinnern werden, falls Deutschland dies einmal vergisst.

Woran denken Sie bei dem Wort Unschuld?
An Nebbich. Ein Leben ohne Schuld gibt es nicht. Das wäre Lüge. Es geht – ob große oder kleine Schuld, ob große oder kleine Vergehen – weniger um die Darstellung einer Schuld, als um das, was einen sich schuldig fühlen lässt.

Haben Sie etwas lernen können von den Kindern, die Sie über Jahrzehnte untersuchten,betreuten, therapierten?
Vielleicht, dass man Grausamkeit in der Seele und im Gedächtnis tragen und doch ein neues Leben beginnen kann. Und dass die eigene Kreativität – sei es durch das Schreiben eines Gedichts, eines Romans oder eines Dramas – dem Menschen hilft, das Erlebte zu überstehen.

Hat man Ihnen je gedankt für Ihren humanitären Einsatz?
Mit dem Bundesverdienstkreuz beispielsweise. Aber wissen Sie, diese Äußerlichkeiten bedeuten mir nichts. Dass ich meine Kinder liebe, meine zweite Frau, meine Patienten, dass sie mich schätzen, dass ich sie verstehe und behüten kann – das ist das Wichtige für mich, das ist mein Leben.

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