jüdische Moderne

Spinoza, Mendelssohn und Revolution

von Michael Brenner

Aus Geschichtswerken lernt man nicht nur etwas über die beschriebenen Ereignisse, sondern auch über ihre Autoren. In der Darstellung jüdischer Geschichte sind die Gründungsmythen und Selbststilisierungen nicht nur besonders komplex, sie reichen auch sehr lange zurück. Bereits in der antiken Geschichtsschreibung finden sich einige der grundsätzlichen Spannungsmomente jüdischer Geschichte. Die im 19. Jahrhundert so aktuellen Fragestellungen, ob die Diaspora positiv oder negativ konnotiert sei und die jüdische Existenz in einem eigenen Staat am besten aufgehoben wäre, die Diskussionen um jüdische Geschichte als Verfolgungsgeschichte, die Bewertung der Akkulturation an die nicht jüdische Umwelt – all dies findet sich in Ansätzen bereits vor zweitausend Jahren in den beiden Makkabäerbüchern, die von den Kämpfen um Jerusalem und der Restaurierung des entweihten Tempels berichten. Das Erste Makkabäerbuch, das in Israel auf Hebräisch verfasst wurde, zeigt viel Interesse an den Details des Tempelkults und der Geografie Palästinas. Das Zweite Makkabäerbuch hingegen wurde wohl in der ägyptischen Diaspora auf Griechisch verfasst und beschäftigt sich mit dem Schicksal der Stadt und deren Rechtssystem. Während das erste, aus nationaler Perspektive geschriebene Buch alle nicht jüdischen Herrscher als schlecht ansieht, davon ausgeht, dass alle Völker die Juden hassen, und auch die innerjüdischen Spaltungen beschreibt, betont der kosmopolitische Autor des griechischen Berichts die wohltätigen Herrscher, die guten Beziehungen zur nicht jüdischen Umwelt und sieht die jüdische Gemeinschaft im Wesentlichen als ein harmonisches Ganzes.
Diese Trennlinie zwischen nationaler und kosmopolitischer Sichtweise ist der neuzeitlichen jüdischen Geschichtsschreibung nicht fremd. Bleiben wir bei der Darstellung der Antike, diesmal aus neuzeitlichem Blickwinkel: Die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 wird gemeinhin als Wendepunkt von der staatlichen Existenz der an ein Territorium gebundenen Juden zur Zerstreuung als reli- giöse Diasporagemeinde gesehen. Für die Historiker im 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es dabei zwei Interpretationsmöglichkeiten: Die stärker assimilierten jüdischen Historiker erblickten in diesem Da- tum die Geburtsstunde des modernen Judentums, das seine Mission des reinen Monotheismus nun unter fremden Völkern verbreiten konnte, und beurteilen daher trotz aller Tragik das Ende der nationalen Existenz langfristig als außerordentlich positiv. Für ihre zionistisch orientierten Kollegen war mit der Zerstörung Jeru- salems hingegen die anomale Situation einer Nation ohne territorialen Mittelpunkt gegeben, die es zu überwinden galt. Wie in jeder Geschichtsschreibung ist die Periodisierung auch der jüdischen Geschichte ein willkürlicher Akt der Historiker, um ihren Stoff zu ordnen. Es gibt dabei immer mehrere Möglichkeiten, Zäsuren vorzunehmen. Wann etwa begann für die Historiker die Neuzeit in der jüdischen Geschichte? Lassen wir ein paar Möglichkeiten Revue passieren:
Am Anfang war Friedrich der Große. Seine Reformen führten letztlich zur Auflösung der innerjüdischen Gemeindestrukturen und ebneten den Juden damit den Weg in die nicht jüdische Gesellschaft. So sah es Isaak Markus Jost, der erste jüdische Historiker, der eine mehrbändige systematische Geschichte der Juden bis in die Moderne verfasste. Für ihn als deutschen Juden der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der noch immer für die vollständige Emanzipation kämpfen musste, wa- ren vor allem die rechtlichen Errungenschaften von Bedeutung. So ist seine Geschichte der Israeliten auch ein Dokument des Kampfes der deutschen Juden um Gleichberechtigung.
Am Anfang war Moses Mendelssohn. Er verkörperte die »Morgenröte« eines neuen jüdischen Zeitalters. Dies zumindest gemäß Heinrich Graetz, dem bedeutendsten Historiker der jüdischen Geschichte im 19. Jahrhundert. Wie Jost eine Generation vor ihm, so musste auch Graetz die längste Zeit seines Lebens um Emanzipation kämpfen. Als selbstbewusster und die nationale Dimension der jüdischen Geschichte betonender Jude wollte er allerdings nicht in den Veränderungen der Umwelt alleine den Ausgangspunkt der jüdischen Neuzeit sehen. Sein Konzept einer »jüdischen Leidens- und Gelehrtengeschichte« beschränkte sich vor allem auf die Geistesgeschichte, in der Moses Mendelssohn die Tore in die Moderne öffnete.
Am Anfang war die Französische Revolution. So lesen wir in der »Weltgeschichte des jüdischen Volkes« von Simon Dubnow, des größten jüdischen Historikers Osteuropas, der im Gegensatz zu seinen deutschen Vorgängern weniger eine Geistes- als vielmehr eine Sozialgeschichte schreiben wollte, in der Gemeindestrukturen und die Autonomie jüdischen Lebens in der Diaspora im Vordergrund standen. Politische Ereignisse, die Strukturen veränderten, waren für ihn daher wichtiger als einzelne Herrscher oder Denker. Nicht das Auftreten des jüdischen Aufklärers, sondern des modernen Bürgers markierte für ihn den Beginn einer neuen Epoche.
Am Anfang war Spinoza. Für Salo Baron, den letzten Autor einer vielbändigen jüdischen Geschichte und ersten Professor für jüdische Geschichte an einer westlichen Universität, war die intellektuelle und wirtschaftliche Transformation der jüdischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert entscheidend. Die jüdische Aufklärungsbewegung Haskala, deren Anfänge in der Regel auf das Berlin in der Mitte des 18. Jahrhunderts datiert werden, lässt Baron in der »Italian and Dutch Haskalah« ein Jahrhundert früher beginnen. Bei der aus seiner Sicht für den einzelnen Juden insgesamt erfolgreichen vormodernen Diasporageschichte diente das westeuropäische Modell als Vorbild.
Am Anfang war Schabtai Zwi. Für Ger-shom Scholem, den Begründer der modernen Erforschung jüdischer Mystik, begann die jüdische Moderne ebenfalls schon Mitte des 17. Jahrhunderts, als der aus der Türkei stammende Pseudomessias Schabtai Zwi die gesamte jüdische Welt in »Gläubige« und »Ungläubige« – jene, die ihm folgten, und jene, die ihn als Häretiker ablehnten, spaltete. Scholem machte bereits hier die Ursachen für die spätere Zersplitterung jüdischen Lebens, das zur Assimilation führen sollte, aus und räumte den innerjüdischen Entwicklungen damit mindestens ebenso viel Bedeutung ein wie den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Zudem gestand diese Wertung der jüdischen Mystik einen besonders hohen Stellenwert zu und widersprach damit sehr deutlich den Vorgängermodellen.
Am Anfang war Jehuda Hechassid. Dieser sonst weitgehend unbekannte jüdische Mystiker, der um 1700 von Osteuropa nach Palästina aufbrach, verkörperte für Benzion Dinur, Geschichtsprofessor an der Hebräischen Universität Jerusalem und später Erziehungsminister des Staates Israel, den Aufbruch in eine neue Zeit. Die Tatsache, dass er zusammen mit einer kleinen Gruppe osteuropäischer Juden seine Heimat verließ und ins Heilige Land »zurückkehrte«, bezeichnete für Dinur den Beginn der Rückkehrbewegung, die schließlich in der Gründung des Staates Israel kulminierte. Diese These bildet den radikalsten zionistischen Versuch der Periodisierung neuerer jüdischer Geschichte.
Bei allen Unterschieden sollten wir auch die Gemeinsamkeiten nicht vergessen: Zunächst gehen alle genannten Historiker davon aus, dass so etwas wie eine zusammenhängende jüdische Geschichte über Länder, Kontinente und Zeitgrenzen hinweg existierte. Darüber hinaus teilen sie den chronologischen Zugang der meisten ihrer Fachkollegen. So unterschiedlich sie jüdische Geschichte interpretierten, so ähnlich waren doch die Auswahl der von ihnen geschilderten Ereignisse und deren Anordnung. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat der israelische Historiker Jakob Katz in seinem Werk »Tradition und Krise« mit der Ereignisgeschichte radikal gebrochen und vor allem die Strukturen jüdischen Lebens im Europa der Frühen Neuzeit analysiert. Und erst am Ende des 20. Jahrhunderts stellten von der Postmoderne beeinflusste Historiker die Existenz einer zusammenhängenden jüdischen Geschichte radikal in Frage.

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