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Späte Würde

Ein Erlebnis hat sich ihm tief eingeprägt. Juri Kanner war noch ein Kind, als in der Umgebung seines ukrainischen Heimatdorfs ein Steinbruch eröffnet wurde. Nichts Ungewöhnliches, denn das Dorf befindet sich im Gebiet Schitomir, das für seine Granit-, Marmor- und Labradorit-Vorkommen bekannt ist. Doch als die ersten Sprengungen durchgeführt wurden, regneten nicht nur Gestein und Erde auf den Boden nieder. Über Hunderte von Metern verstreut lagen menschliche Knochen. »Das waren die Gebeine der rund 1.500 jüdischen Einwohner des Dorfs, die noch kurz vor Kriegsende erschossen wurden und die man eilig in einem Erdloch verscharrt hat«, sagt der 1955 geborene Kanner.
Kanner, heute Präsident des Russischen Jüdischen Kongresses (RJK), ist Mitinitiator der Initiative »Wernut dostojnstwo« (Würde zurückgeben). Das Projekt wurde Mitte August in Moskau gestartet. Ziel ist es, möglichst alle Massengräber aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der GUS ausfindig zu machen. An den Fundorten soll nachträglich eine Grabstätte eingerichtet werden, die sowohl der jüdischen Tradition entspricht als auch der jeweiligen nationalen Gesetzgebung. »Viele Familien wurden vollständig ermordet. Es gibt keine Nachfahren, die die Gebeine beerdigen könnten. Wenn wir es nicht tun, tut es nach uns keiner mehr«, sagt Kanner.
Sobald die nötigen organisatorischen und finanziellen Strukturen in der Zentrale des Projekts in Moskau geschaffen sind, soll die Arbeit vor Ort beginnen. Michail Sawin, Leiter der Pressestelle des RJK, beschreibt die Pläne: »Zunächst machen wir die Grabstätten ausfindig. Ohne die Gebeine zu bewegen, werden mit modernen Instrumenten und Methoden die Grenzen des Massengrabs abgesteckt. Anschließend soll, entsprechend der jüdischen Tradition, mit einer Umzäunung die Grenze sichtbar festgehalten werden.« Wenn schließlich nach ausführlichen Untersuchungen des Grabs und Archivarbeiten die Ermordeten identifiziert sind, werde ein Gedenkstein mit den Namen auf dem Gelände errichtet. Und dabei spreche man das Kaddisch, so Sawin.
»Endgültige Angaben zur Anzahl der Massengräber liegen uns noch nicht vor«, sagt Sawin. »Aber allein für Russland gehen Schätzungen von 400 bis 800 noch nicht erfassten Massengräbern aus.« Aus den anderen GUS-Ländern, die sich am Projekt beteiligen, darunter die Ukraine, Weißrussland, die baltischen Staaten und Moldawien, liegen noch keine offiziellen Schätzungen vor.
Der Start des Projekts fällt in eine Zeit, in der in Russland die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg intensiv diskutiert wird. Regierungsvertreter werden nicht müde, vor einer drohenden Uminterpretation der Geschichte zu warnen. Es gebe eine Tendenz dazu, die Sowjetunion vom Befreier zum Täter zu machen.
Tatsächlich scheint sich der von der Regierung angestoßene Diskurs auch in den Diskussionspapieren von »Wernut dostojnstwo« niederzuschlagen. Die Mitte August verabschiedete Deklaration des Projekts macht auf die Gefahr einer »Umdeu- tung der Geschichte« aufmerksam: »Heute, wo weltweit Extremismus und Xenophobie wachsen, begleitet von Versuchen, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs umzudeuten und den Holocaust zu leugnen, ist das Projekt aktueller denn je.«
Die Idee für das Projekt, an dem sich auch die US-Sektion des World Jewish Congress beteiligt, sei schon vor vielen Jahren entstanden, betont Kanner. Sie sei aber erst jetzt, rund ein Jahr vor dem 65. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager, bis zur möglichen Umsetzung herangereift. »›Wernut dostojnstwo‹ verfolgt kein politisches Ziel«, sagt der 54-jährige RJK-Präsident mit Nachdruck. Natürlich könne alles politisch instrumentalisiert werden, auch das Projekt. Und er fügt hinzu: »Ich finde, die Menschen sollten jetzt keinen Krieg auf Zeitungsseiten und in Fernsehsendungen austragen. Jeder sollte einen Spaten in die Hand nehmen und seinen Teil dafür tun, dass die Opfer der Gewalttaten eine würdevolle Ruhestätte erhalten.« Christian Jahn

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