Anne Franks Tagebuch

Schoa zum Mitsingen?

von Uwe Scheele

Schrecklich findet der 82-jährige Buddy Elias die Vorstellung, dass das Tagebuch seiner Cousine Anne Frank jetzt in Madrid als Musical inszeniert wird. Elias ist der einzige noch lebende Verwandte und außerdem Präsident des Anne-Frank-Fonds in Basel. »Anne Frank wurde mit ihrer Familie ins Konzentrationslager verschleppt und starb an Typhus. Da gibt es nichts Positives, die Inszenierung ist viel zu fröhlich«, urteilt er. Angesehen hat er sich das Stück trotz Einladung nicht. »Ich würde nur leiden.«
Vor zehn Jahren hat der spanische Musikproduzent Rafael Álvero das Anne-Frank-Haus in der Amsterdamer Prinsengracht besucht, seither ist er von der Idee besessen, die Geschichte der acht während der Nazi-Besatzung im Hinterhaus eines Fabrikgebäudes versteckten Juden als Musical-Projekt auf die Bühne zu bringen. In dem spanischen Repräsentanten der Amsterdamer Anne-Frank-Stiftung fand er einen Verbündeten und erhielt schließlich die Zustimmung zur dramaturgischen Neufassung des Tagebuchstoffs – das hatte nicht mal Steven Spielberg mit einem Filmprojekt geschafft. Im Madrider Teatro Calderón hatte »Das Tagebuch der Anne Frank. Ein Gesang auf das Leben« vergangene Woche Premiere. Trotz der Kritik im Vorfeld kam das Stück beim Publikum in Madrid sehr gut an.
Es ist Krieg in Amsterdam. Lichtkegel von Suchscheinwerfern gleiten über die Köpfe der Zuschauer, Sirenen heulen, Bomben fallen. Auf den schmalen Projektionsflächen am Bühnenrand steigen Rauchschwaden empor. Aus einem imaginären Radio ertönen unverständliche Stimmen, dann »Sieg-Heil«-Rufe. Sogleich hebt sich der Vorhang: Anne bekommt zum Geburtstag ihr Tagebuch geschenkt, alle sind glücklich, singen und tanzen. Dann die Flucht, das Haus der Franks wird zum Versteck und als bespielbares Puppenhaus auf zwei Ebenen wirksam in Szene gesetzt.
Rafael Álvero zeichnet mit Musik und Libretto von José Luis Tierno das Bild eines lebenslustigen, manchmal rebellischen Teen- agers. Die 13-jährige Kubanerin Isabella Castillo – sie wurde in einem weltweiten Casting unter 800 Kandidatinnen ausgesucht – gibt überzeugend und stimmgewaltig diese Anne. Kitty, die Adressatin des Tagebuchs, steht als Annes Alter Ego mit auf der Bühne. Mal im Paillettenkleid, mal im Badeanzug bringt sie Annes Träume zum Ausdruck. Dann brechen sie beide aus dem Gefängnis des Hinterhauses aus, tanzen, singen und plaudern am Bühnenrand – ein gelungener Kunstgriff, keine Trivialisierung oder Verkitschung. Die scheinbar heile Welt im Hinterhaus ist durchsetzt mit Szenen der Verfolgung der Amsterdamer Juden.
In seinem Bemühen, den Stoff nicht zu banalisieren, ist Álveros Musical im ersten Akt etwas textlastig, gerät stellenweise zum Sprechtheater, doch es überzeugt in seiner dramaturgischen Verdichtung. Álvero ist sich sicher, dass er den Geist des Originalwerks getroffen hat. »Viele denken, ein Musical ist per se banal, aber das stimmt nicht.« Mit Musik erreiche man auch ein jüngeres Publikum, hofft Álvero und betont den pädagogischen Ansatz: Jeden Mittwochmorgen gibt es eine Vorstellung für Schulklassen, im Anschluss wird über Tagebuch und Zeitgeschichte diskutiert.
Die Kritik von Buddy Elias, der die Inszenierung nicht verhindern konnte, weil sie keine wörtlichen Textpassagen verwendet, stört Álverez gewaltig. »Er sollte das Stück anschauen, es würde ihm sicher gefallen.« Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Madrid hätten ihn nach der Generalprobe beglückwünscht, sagt der Regisseur. Auch der israelische Botschafter in Spanien, Raphael Schutz, lobte nach der Premiere die Originaltreue des Werks.
Der zweite Akt ist dann mehr Musical, die Musik wird schneller, die Liebesgeschichte zwischen Anne und Peter rückt in den Mittelpunkt. Die Eingeschlossenen schöpfen Hoffnung, wenn sie im Radio die Nachrichten der BBC hören, haben Angst, dass ihnen das Geld ausgehen könnte und erschrecken bei jedem Türklopfen zu Tode. Nach der Verhaftung kehrt Annes Vater als einziger Überlebender der Gruppe zurück ins Hinterhaus. Er wird begleitet vom Chor der Überlebenden, die ihr Lied »Nunca más – Nie wieder!« anstimmen, während Dutzende Blätter aus dem Tagebuch auf die Bühne segeln.
Das ist alles andere als seichte Broadway-Show, sondern eine gelungene Neufassung. Mit Banalisierung hat das nichts zu tun. In den kommenden sechs Monaten wird das Stück in Madrid zu sehen sein, danach soll es auf Welttournee gehen.

Hamburg

Zehn Monate auf Bewährung nach mutmaßlich antisemitischem Angriff

Die 27-Jährige hatte ein Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft nach einer Vorlesung über antijüdische Gewalt attackiert

 28.04.2025

Fernsehen

Mit KI besser ermitteln?

Künstliche Intelligenz tut in Sekundenschnelle, wofür wir Menschen Stunden und Tage brauchen. Auch Ermittlungsarbeit bei der Polizei kann die KI. Aber will man das?

von Christiane Bosch  21.04.2025

Reaktionen

Europäische Rabbiner: Papst Franziskus engagierte sich für Frieden in der Welt

Rabbiner Pinchas Goldschmidt, der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, würdigt das verstorbene Oberhaupt der katholischen Kirche

 21.04.2025

Berlin

Weitere Zeugenvernehmungen im Prozess gegen Angreifer auf Lahav Shapira

Der Prozess gegen Mustafa A. am Amtsgericht Tiergarten geht weiter. Noch ist unklar, ob am heutigen Donnerstag das Urteil bereits gefällt wird

 17.04.2025

Indischer Ozean

Malediven will Israelis die Einreise verbieten

Es ist nicht die erste Ankündigung dieser Art: Urlauber aus Israel sollen das Urlaubsparadies nicht mehr besuchen dürfen. Das muslimische Land will damit Solidarität mit den Palästinensern zeigen.

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Spenden

Mazze als Mizwa

Mitarbeiter vom Zentralratsprojekt »Mitzvah Day« übergaben Gesäuertes an die Berliner Tafel

von Katrin Richter  10.04.2025

Jerusalem

Oberstes Gericht berät über Entlassung des Schin-Bet-Chefs

Die Entlassung von Ronen Bar löste Massenproteste in Israel aus. Ministerpräsident Netanjahu sprach von einem »Mangel an Vertrauen«

 08.04.2025

Würdigung

Steinmeier gratuliert Ex-Botschafter Primor zum 90. Geburtstag

Er wurde vielfach ausgezeichnet und für seine Verdienste geehrt. Zu seinem 90. Geburtstag würdigt Bundespräsident Steinmeier Israels früheren Botschafter Avi Primor - und nennt ihn einen Vorreiter

von Birgit Wilke  07.04.2025