Boris Lurie

Schoa und Pin-Ups

von Judith Kessler

Mit seiner Baseballmütze, der Sonnenbrille und den Einkaufstüten sieht Boris Lurie aus wie jeder andere Opa auf Manhattans Straßen, nicht wie einer, der die amerikanische Öffentlichkeit Jahrzehnte mit drastischen Kunstaktionen gegen Atomwaffentests, Rassismus oder Frauenunterdrü- ckung provoziert. Reinhild Dettmer-Finke und Matthias Reichelt porträtieren den Erfinder der »NO! Art« am 8. Juni um 22.15 Uhr auf arte. Die beiden Filmemacher verzichten dabei auf jede Kommentierung. Lurie, 1924 in Leningrad geboren und in Riga aufgewachsen, bis die Deutschen seine Jugend beendeten, ist sich selbst der beste Kommentar. »NO! Art heißt, zu versuchen, allein zu denken«, sagt er. NO!art, die Ende der 50er-Jahre als Gegenbewegung zu Kunstmarkt und Pop-Art entstand, ist subjektiv, politisch und provokant. Damals begann Lurie mit Collagen wie Massaker von My Lai, in denen er Totalitarismus-Symbole mit Werbefotos verband, Hakenkreuze mit Stripperinnen oder eben die Schoa mit Pin-ups.
Die Kamera fährt über Schwarz-Weiß-Bildchen, die so antiquiert wie harmlos wirken – Frauen mit üppigem Busen, Strapsen, platinblonden Turmfrisuren – bis sie ein Foto mit ausgemergelten Männern in Häftlingskleidung einrahmen: Buchenwald. Die Allianz der quicklebendigen nackten Mädchen mit dem Grauen macht solche hundertfach gesehenen (und übersehenen) Bilder auf neue Weise schockierend. Doch Lurie geht weiter. Die Frau, die dem Betrachter in Railroad Collage ihren nackten Hintern entgegenstreckt, umrahmt nichts, sie steht hineinmontiert mitten in einem Leichenberg auf einem Eisenbahnwaggon.
Darf man den Finger so tief in die Wunde bohren? »Ich hätte gern angenehme Bilder gemacht, aber es hat mich immer etwas gehindert«, sagt Lurie. Mit seinem Vater hat er die Lager Riga, Lenta, Stutthof und ein Außenlager von Buchenwald überlebt. Vier Jahre Hölle. Dann die Befreiung. Amerika bekam damals zum ersten Mal in Illustrierten Fotos aus den KZs zu sehen – zwischen Reklameseiten und Partyberichten. Der Film zeigt Luries vollgestopfte chaotische New Yorker Wohnung, seinen stets übervollen Kühlschrank. »Die Hauptsache ist der Magen«, antwortet er auf die Frage, ob sie im Lager an Sex gedacht hätten. Luries Leben und seine Welt hängen in unzähligen Schichten an den Wänden: Briefe, Fotos, Zeitungssausrisse, ein Stadtplan von Riga und der Weg zum KZ Rumbula, wo seine Mutter, die Großmutter und die kleine Schwester ermordet wurden. Darüber redet Boris Lurie nicht. Aber er trägt ständig seinen Glücksbringer mit sich: eine Goldmünze, die er während der Lagerjahre im Mund versteckt hielt.

arte, Freitag 8. Juni, 22.15 Uhr

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