von
Katharina Schmidt-Hirschfelder
Alles war an diesem 8. Dezember perfekt vorbereitet für den Nobel-Schabbat in Stockholms Großer Synagoge: Festrede, kostbare Geschenke, Kiddusch. Am Samstag vor der Nobelpreisverleihung, die seit 1901 alljährlich am 10. Dezember in der schwedischen Hauptstadt zum Andenken an Alfred Nobel stattfindet, lädt die jüdische Gemeinde die jüdischen Preisträger zum sogenannten Nobel-Schabbat ein. Erstmals gab es in diesem Jahr sogar einen Kinder-Nobel-Schabbat. Doch während der potenzielle Nobel-Nachwuchs unten in der Bibliothek Geschichten des legendären Literaturnobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer lauschte, warteten die Besucher des Gottesdienstes oben vergeblich auf die Ehrengäste.
Von den drei jüdischen Preisträgern, die sich in diesem Jahr den Nobelpreis für Wirtschaft teilen, hatten zwei bereits vorher abgesagt. Für den 90-jährigen Leonid Hurwitz, der den Preis an seinem Wohnort in Minnesota entgegennahm, wäre die Reise zu beschwerlich gewesen. Er wäre gern gekommen, schrieb er in einem Brief an Morton Narrowe, Stockholms emeritierten Oberrabbiner und langjährigen Organisator des Nobel-Schabbats. Auch Eric Maskin bedauerte in einem Brief, dass das Nobelpreiskomitee seinen Samstag bereits restlos verplant habe. Der schwedische König Carl XVI. Gustaf zeichnete ihn und seine beiden Kollegen Leonid Hurwitz und Roger Myerson am Montagabend im Stockholmer Stadshuset für ihre Forschungen auf dem Gebiet der »Mechanismus-Designtheorie« aus. Myerson hatte immerhin fest vor, zum Nobel-Schabbat zu kommen, mitsamt Verwandtschaft und Freunden. Bis Freitagabend sah es noch gut aus. Doch buchstäblich in letzter Minute strich auch der 56- jährige Princeton-Professor die Stippvisite in der Wahrendorffsgatan aus seinem engen Terminplan.
Maynard Gerber, Kantor an der Großen Synagoge, nahm es gelassen. »Es passiert nicht zum ersten Mal, dass die erste Reihe leer bleibt. Schade nur, dass nicht einmal die Familie kam, um stellvertretend unser Geschenk entgegenzunehmen.« Der Kantor streicht behutsam über einen schillernden Kristallblock, in den die Große Synagoge eingraviert ist. Das Geschenk sei eine besondere Geste, aber natürlich nicht der Sinn des Nobel-Schabbats, betont der 60-jährige Gerber. Vielmehr wolle man damit die Freude betonen, dass »einer von uns« den Preis gewonnen habe.
Anfangs ist das auch gelungen. Der erste Nobel-Schabbat 1975, eine Idee des damaligen Kiddusch-Komitees, war prompt so erfolgreich, dass er seitdem aus dem Stockholmer jüdischen Kalender nicht mehr wegzudenken war. Die folgenden Jahre schienen die Erfolgsgeschichte des Nobel-Schabbats weiterzuschreiben, oft überraschend anders als geplant. Als zum Beispiel der amerikanische Schriftsteller Saul Bellow 1976 den Literaturnobelpreis erhielt, kam nicht er in die Synagoge, sondern sein Bruder. Zu Gerbers Lieblingserinnerungen gehört die Begegnung mit Baruch S. Blumberg, dem Medizinnobelpreisträger 1976. Nachdem Blumberg das Geschenk der Stockholmer jüdischen Gemeinde entgegengenommen hatte, überreichte er dem verblüfften Kantor ein Geschenk: einen silbernen Kidduschbecher. »Dieses Zugehörigkeitsgefühl war überwältigend«, schwärmt Gerber.
Zwei Jahre später dann, 1978, bekam Isaac Bashevis Singer den Nobelpreis für Literatur. Das Zusammentreffen mit ihm bewegt Gerber noch heute. »Erst Synagoge mit Alija, danach ein Riesenfest im Gemeindezentrum mit Klesmer. Die Kinder hatten ihm zu Ehren sogar jiddische Geschichten einstudiert.« Neben Singer kam 1978 ein zweiter jüdischer Preisträger nach Stockholm, der Physiker Arno Penzias. Als er von seinem New Yorker Schneider den Smoking abholte, soll ihn dieser gefragt haben: »Sind Sie Singer?« Eine Anekdote, die Penzias später lachend in Stockholm erzählte. Dabei stand er zuerst gar nicht auf der Liste der Stockholmer Gemeinde. »Bis mich meine Schwiegermutter aus New Jersey anrief«, schmunzelt Gerber. »Ein Mitglied ihrer Gemeinde hätte gerade den Nobelpreis in Physik erhalten.« Beim abendlichen Schabbat-Essen saß Gerber damals neben Penzias’ Vater. Plötzlich habe der alte Mann zu erzählen begonnen. »,Schon als Arno ein kleiner Junge war, hat er Experimente geliebt‹, betonte der Vater stolz. Ich dachte, da sitzt ein Nobelpreisträger, und der Vater sieht ihn immer noch als kleinen Jungen.«
Vom glamourösen Flair der ersten Jahre sind heute nur noch die Erinnerungen geblieben. Denn als die Jüdische Gemeinde Stockholm Ende der 90er-Jahre dazu überging, an alle Preisträger Einladungen zum Nobel-Schabbat zu verschicken, drohte das Herzstück der Veranstaltung zu verwischen: die aktive Teilnahme am Gottesdienst. »Das ist es doch, was uns ethnisch und religiös vereinigt«, erklärt Kantor Gerber. Der vorerst letzte Höhepunkt liegt nunmehr zwei Jahre zurück. Als der israelische Mediziner Robert Aumann 2005 den Nobelpreis erhielt, zog er zum Gottesdienst zwar die orthodoxe Synagoge vor, aber für den Kiddusch kam er in die konservative Große Synagoge. Eine feine Geste, erinnert sich Gerber strahlend.
Inzwischen mehren sich die Stimmen, zur alten Praxis zurückzukehren. Der Aufwand sei zwar größer, die Juden unter den Preisträgern herauszufinden – mal hilft ein Gemeindemitglied, mal das Nobelkomitee, mal eine unerwartete Quelle. »Hauptsache, wir kehren zu den Wurzeln zurück«, wünscht sich Rabbiner Morton Narrowe. »Der Nobel-Schabbat soll wieder das werden, was er einmal war: unsere Geste der Ehrerbietung für die jüdischen Preisträger.« Die erwies Narrowe ihnen dennoch in seiner Predigt. Er erinnerte die Gemeinde an Talmud Tora, die jüdische Lerntradition, die Nobelpreisträger hervorbringe, und an die Einheit des Volkes Israel. Grund genug zum Feiern gab es auch ohne Ehrengäste: Schabbat, Rosch Chodesch und Chanukka. Was von diesem missglückten Nobel-Schabbat bleibt, ist die Hoffnung auf nächstes Jahr. Vielleicht schafft es ja wieder »einer von uns«. Und vielleicht nimmt er sich dann Zeit für den Gottesdienst.