Vertriebenenausstellung

Opferrolle rückwärts

von Michael Wuliger

Seit einigen Jahren fordert der Bund der Vertriebenen (BdV), in Berlin ein »Zentrum gegen Vertreibungen« einzurichten. Die BdV-Vorsitzende und CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach möchte einen »Ort der Mahnung«, der »den Leidensweg, ... die Siedlungsgeschichte und das kulturelle Erbe der vielen Millionen deutschen Deportations- und Vertreibungsopfer erfahrbar« macht.
Das Projekt ist umstritten. Tschechen und Polen fürchten, daß ein Wallfahrtsort des Revanchismus entstehen könnte. Andere Kritiker glauben, daß ein solches Zentrum quasi als Gegenstück zum Holocaustmahnmal deutsche Schuld relativieren soll. Frau Steinbach und ihre Mitstreiter – zu denen mit Ralph Giordano, Walter Homolka, Imre Kertesz, György Konrad, Julius Schoeps und Michael Wolffsohn auch einige renommierte Juden zählen – weisen das von sich. Es gehe um Dialog und Versöhnung, nicht um Aufrechnung oder gar Rache. »Im Geiste der unteilbaren Humanitas« (Giordano) wolle man aller Opfer von Genoziden und Vertreibungen in Europa gedenken, damit sich solches niemals wiederholt.
Die Debatte um das Zentrum litt bisher daran, daß sie höchst abstrakt war. Man stritt um eine Idee. Jetzt kann die Diskussion konkret werden. Mit der Ausstellung »Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts« präsentiert der BdV seit voriger Woche im Berliner Kronprinzenpalais auf 600 Quadratmetern Fläche die Generalprobe für sein geplantes Zentrum.
»Mehr als 30 Völker Europas haben im 20. Jahrhundert ihre Heimat verloren. Historiker sprechen von 80 bis 100 Millionen Menschen«, informiert eine große Tafel am Eingang der Schau. Danach betritt der Besucher den ersten von drei Ausstellungsräumen. In den Linoleumboden ist eine Landkarte des Kontinents gezeichnet. An den Wänden läuft ein 70-Meter-Fries aus Bild-Texttafeln entlang. Er beginnt chronologisch 1915 mit dem türkischen Völkermord an den Armeniern, gefolgt vom türkisch-griechischen Bevölkerungstransfer 1922/23 und der Vertreibung der Juden aus Deutschland ab 1933 als, wie der israelische Historiker Moshe Zimmermann zitiert wird, »Baustein des Holocaust«. Anschließend wird die Umsiedlung der Karelier nach Finnland 1939/40 und 1944/45 dokumentiert. Die Deportationen der Polen, Balten, Ukrainer und Rußlanddeutschen in Stalins Sowjtunion 1939 bis 1949 steht neben der deutschen Germanisierungspolitik in den besetzten Ostgebieten. Es folgen die Vertreibung der Italiener von der jugoslawischen Adriaküste 1944 bis 1948, die türkisch-griechischen Fluchtbewegungen in Zypern 1963/64 sowie 1974 und schließlich die ethnischen Säuberungen nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren.
In zwei kleineren Räumen werden Originalzeugnisse von Vertreibungen gezeigt: Bücher, Bilder und Geschirr, das Flüchtlinge im Gepäck mitnahmen, der Reisepaß des jüdischen Schriftstellers Franz Werfel nach seiner Flucht aus Wien vor den Nazis 1938, und die 300 Kilo schwere Schiffsglocke des deutschen Flüchtlingsschiffs »Wilhelm Gustloff«, das nach einem sowjetischen Torpedoangriff im Januar 1945 mit mehr als 9.000 Zivilisten an Bord vor Danzig sank.
Die Schau ist kühl, sachlich und zurückgehaltend gestaltet. Man will jeden Anschein von Propaganda vermeiden, genauso wie den Eindruck von Deutschtümelei. Die Ausstellung sei »konsequent europäisch angelegt«, betont Ausstellungskurator Wilfried Rogasch. Wobei quantitativ allerdings die Vertreibung der Deutschen dominiert, die rund ein Sechstel der Ausstellungsfläche einnimmt.
Doch das ist nicht das eigentliche Problem. Fragwürdig ist das Grundkonzept der Ausstellung, »keine Gewichtung der Leiden« (Erika Steinbach) vornehmen zu wollen. So stehen denn systematische Ausrottungen ganzer Völker, wie die Schoa und der Genozid an den Armeniern auf einer Stufe mit der völlig unblutigen Übersiedlung der Karelier nach Finnland. Letztere landeten vorübergehend in Flüchtlingslagern, erstere für immer in Massen- gräbern oder Gaskammern. Ein signifikanter Unterschied, der in dieser Ausstellung systematisch vernachlässigt wird.
In Diskussionen fällt gelegentlich das Argument, die Juden sollten endlich aufhören, immer nur vom Holocaust zu reden; andere Völker hätten schließlich auch gelitten. Nach dieser Ausstellung wird man solche Sprüche wahrscheinlich öfter hören.

Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts.
Bis 29. Oktober im Kronprinzenpalais, 10117 Berlin, Unter den Linden 3
www.z-g-v.de

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