Rudolf Tessler

Nächster Halt: Erinnerung

von Marina Maisel

Der Reisebus fährt vom Gemeindezentrum los. Es gießt in Strömen. Große Regentropfen rollen an den Scheiben herab. Im Bus bemerkt jemand leise: »Die Natur weint mit.« Fünf Stationen liegen vor den Passagieren: Mühldorf, Kraiburg, Neumarkt-Sankt Veit, Burghausen und Dachau. Ein grauhaariger, ernster Herr sitzt zusammen mit seiner Frau ganz vorn. Rudolf Tessler. Vor genau 63 Jahren, am 29. April 1945, war ihm in dieser Gegend die Freiheit wieder geschenkt worden. Unvergessliches hat er hier erlebt. Die Erinnerung daran und eine besondere Aufgabe hat nun ihn, seine Frau Edith, zwei Töchter, seinen Sohn und zwölf Enkelkinder von Chicago nach Bayern geführt.
Rudolf Tessler wurde 1926 in Viseu (Rumänien) geboren. Im Mai 1944 wurde die Familie Tessler nach Auschwitz deportiert. Seine Mutter und sechs seiner Geschwister werden hier ermordet. Der Vater und zwei Brüder überleben und werden mit ihm im August 1944 nach Dachau transportiert. Im Oktober 1944 kommt Rudolf Tessler in das KZ-Außenlager Mühdorf und arbeitet dort am Bau einer unterirdischen Flugzeugfabrik. Von den 8.300 KZ-Häftlingen kamen 3.500 Menschen ums Leben. Am 28. April 1945 wurde das Lager evakuiert. Einen Tag später wurde Rudolf Tessler von den Amerikanern in Seeshaupt befreit. 1947 wanderte er nach Amerika aus und lebt heute in Chicago.
Vor einigen Jahren begegnete das Ehepaar Tessler in Sils-Maria im Engadin zufällig David Stopnitzer. Als Tessler erfährt, dass Stopnitzer aus München, also Bayern kommt, bittet er ihn, herauszufinden, wo die drei Brüder seiner Frau begraben liegen. Er nennt den Namen Hoffmann und die Gegend von Mühldorf. Stopnitzer recherchiert daraufhin im Stadtarchiv von Mühldorf. Er findet eine Todesliste von einem Außenlager Dachaus, dem Lager Mettenheim. Unter hunderten von Namen gibt es fünfzig Hoffmanns. Anhand der Geburtsdaten kann er die Brüder identifizieren: Yitzchak Leib, Binyamin Moshe, Avraham Yehuda Hoffmann. Die Frage allerdings, wo genau sie begraben liegen, muss offen bleiben. Bekannt ist nur, dass sie in einem Massengrab auf einem der vier KZ-Friedhöfe in Mühldorf, Kraiburg, Neumarkt-St.Veit und Burghausen begraben worden sind.
Edith und Rudolf Tessler, die seit dem Krieg das Land nicht mehr aufgesucht haben, das ihren Familien nur Trauer und Schmerz bereitet hat, besuchten vergangenes Jahr diese vier Friedhöfe. Hier entschlossen sie sich, auf eigene Kosten Gedenksteine in allen vier Friedhöfen aufzustellen, die sie allen namenlosen, jüdischen Opfern widmen wollen. David Stopnitzer, der sich auch in der Vergangenheit immer wieder für die Errichtung von Grabsteinen engagiert hat, kümmerte sich um die Details. Er traf sich mit den Bürgermeistern der Städte und besorgte die nötigen Genehmigungen. Die Unterstützung der israelitischen Kultusgemeinde war ihm dabei jederzeit sicher. Schließlich wurde der Steinmetz Stephan Watzinger beauftragt, zehn Grabsteine herzustellen. 4548 eingemeißelte Buchstaben gedenken in Hebräisch, Deutsch und Englisch der namenlosen Opfer. Den Text dazu hat Rudolf Tessler selbst verfasst. Zur »ewigen Erinnerung« steht auf Steinen und unter dem Davidstern geht es weiter: »An diesem Ort und auf anderen KZ-Friedhöfen der nahen Umgebung wurden etwa 1500 jüdische Menschen begraben, die in den Außenlagern des KZs Dachau im Landkreis Mühldorf gefangen gehalten wurden. Sie starben in den beiden letzten Kriegsjahren 1944 und 1945 an den unmenschlichen Lebensbedingungen und hörten nicht auf G‹tt zu dienen. Möge G‹tt ihr Blut sühnen.« Die erste Station machte der Bus in Mühldorf. Der Bürgermeister der Stadt Günther Knoblauch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, der Überlebende und Initiator der Aktion Rudolf Tessler sowie Gemeinderabbiner Steven Langnas hielten bei der Enthüllung der Grabsteine die Ansprachen. Charlotte Knobloch zeigte sich tief beeindruckt von dieser Aktion und sagte: »Ihrer bewundernswerten Initiative, verehrter Herr Tessler, verdanken wir die Möglichkeit, dieser Menschen in Würde zu gedenken. Ich wünsche uns allen, dass die Steine, die heute hier und in Burghausen, Kraiburg und Neumarkt enthüllt werden, den Toten für immer ihre Namen wiedergeben. Den Lebenden seien diese Steine eine Mahnung – denn es ist die Erinnerung, die den Schlüssel zur Erlösung birgt.«
Eine religiöse Zeremonie begleitete die Feierstunde. Zusammen beteten die siebzehn Familienmitglieder der Tesslers: die Großeltern, die Kinder und die Enkelkinder. Kerzen wurden angezündet und zu den Grabsteinen gestellt. Zuletzt legte jeder nach jüdischem Brauch einen Stein auf den Grabstein. Auf den anderen Friedhöfen war es ähnlich. Auch in Kraiburg, Neumarkt und Burghausen erwiesen die ersten Bürgermeister der Familie Tessler die Ehre. In Neumarkt ergab sich zudem spontan ein Gespräch mit Menschen, die als Kinder die Massenbegräbnisse miterlebt hatten. Der zweiundachtzigjährige Rudolf Tessler war tief bewegt. So aufwühlend die Gedenkfeiern auf den vier Friedhöfen auch waren, Rudolf Tessler ließ es sich nicht nehmen, am Ende der Busfahrt mit seiner Familie noch einen Ort der Erinnerung aufzusuchen: Dachau. »Hier am Appellplatz wurden wir immer versammelt«, erzählt er den Kindern und Enkeln. Er bleibt nie lang an einem Ort stehen. Zu voll ist das Gelände mit traurigen Erinnerungen. Ihn zieht es von hier nach da. Im Museum sieht Tessler ein Foto: »Genau so eine Mütze, wie dieser Mann, musste ich auch tragen.« Neben dem Modellbau des gesamten KZ-Geländes bleibt er kurz stehen und sucht zwischen den aus Papier und Pappe gestalteten Gebäuden »seine« Baracke. Sein Weg endet erst neben dem Gebäude des Krematoriums. Hier bleibt er auf einer Bank sitzen und weint. Seine Enkel, die gerade die Gaskammern besichtigt haben, umarmen ihn, nehmen ihn an der Hand und verlassen diesen bedrückenden Ort.
Erst jetzt wird der Himmel blau und es regnet nicht mehr. Der Tag klang mit einem Empfang im Gemeindezentrum aus. Rudolf Tessler bedankte sich noch einmal für den Einsatz David Stopnitzers. Er schätzte sich glücklich, seine Mission erfüllt zu haben. In Mühldorf, Kraiburg, Neumarkt-Sankt Veit und Burghausen stehen nun seine Gedenksteine zur Erinnerung an 1500 Opfer der Schoa, die dem Vergessen entrissen werden konnten.

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