Hohe Feiertage

Mitten im Leben

von Miriam Faust

In der jährlichen Abfolge der Monate gelten Tischri und Nissan als Monate der »Anfänge«. Rosch Haschana, zu Beginn des Monats Tischri, markiert den Beginn des neuen Jahres gemäß dem gegenwärtig gültigen jüdischen Kalender. Aber nirgendwo in der Tora gibt es einen Hinweis auf den Tischri als ersten Monat des Jahres, noch taucht der Name Rosch Haschana auf, obwohl in der Mischna (Rosch Haschana 1,1) der »1. Tischri« für bestimmte Dinge als Neujahr gilt.
Die Vorstellung von Tischri und Nissan als zwei außerordentlich wichtigen Abschnitten im Jahreszyklus, die beide mit einem Neubeginn verbunden sind, spiegelt sich im Streit zwischen Rabbi Eliezer und Rabbi Yehoshua über das Datum der Schöpfung wider. Während Rabbi Eliezer der Meinung ist, dass die Welt im Tischri erschaffen wurde (Bavli, Rosch Haschana, 10b), behauptet Rabbi Yehoshua, der Nissan sei der Erste der Monate (ebd., 11a). Für den Maharal steht dieser Streit für eine Sicht auf die Grundlagen des Lebens aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Er schreibt, Nissan und Tischri seien die Hauptmonate des Jahres; doch während Nissan die Lebenskraft und Vitalität des Jahres auf der Ebene der Emotionen ausdrückt, bezeuge Tischri die Heiligkeit und Spiritualität des Jahres auf geistigem Niveau (Hiddushe Aggadot I, 94-97).
In dieser Deutung des Streits bedeuten die zwei Monate – Nissan und Tischri – je einen Neuanfang auf zwei wesentlich unterschiedlichen Ebenen. Der Monat Nissan leitet die erste Hälfte des Jahres ein, das heißt »das Herz, wo die Lebenskraft wohnt«. Während Tischri sich auf Intellekt, Heiligkeit und die Anwendung der Urteilskraft in der Welt bezieht und deshalb vom »Verstand« symbolisiert wird.
Neuere Untersuchungen, die sich mit den Entwicklungsmodellen der für Erwachsene typischen Lebenszyklen befassen, können vielleicht Aufschluss geben über diese verschiedenen Ansichten von Tischri und Nissan: als Zeitabschnitte von besonderer Bedeutung, die unterschiedliche Prozesse im Jahreszyklus symbolisieren. Diese Untersuchungen verwei-
sen auf zwei kritische Zeitpunkte im Lebenszyklus eines Menschen, wobei jeder von ihnen eine andere Art von Anfang darstellt. Diese Zeitpunkte entsprechen auf überraschende Weise der relativen Stellung von Tischri und Nissan im jüdischen Kalender.
Ein Überblick über Lebenszyklus-Untersuchungen stellt verschiedene Denkansätze im Zusammenhang mit dem Entwicklungsprozess des menschlichen Le-
bens vor. Einige sehen ihn als lineare Bewegung, stetig fortschreitend von Stufe zu Stufe, ohne Wiederholungen, während andere ihn als eine Reihe geregelter zyklischer Prozesse sehen, die sich wiederholen. Den zyklischen Modellen gemäß er-
lebt der Mensch sein ganzes Leben hindurch zyklische Perioden relativer Stabilität auf der einen und Übergänge und Veränderungen auf der anderen Seite. Diese zyklischen Perioden beschreiben ihn in jeder seiner Lebensrollen und haben mit dem permanenten Drang, zu verändern und neu anzufangen zu tun. Motiviert wird dieser Drang durch persönliche Bedürfnisse, und er ist – wenn auch in unterschiedlichen Graden, die von der Persönlichkeit abhängig sind – in jedem Men-
schen vorhanden.
Eine umfassende Untersuchung mit Hunderten von Probanden ermittelte sechs Hauptbereiche, die die Interaktion des Menschen mit der Welt prägen, und erforschte den typischen Prozess, wie sich in den Probanden in jedem dieser Bereiche Beziehungssysteme entwickeln. Die wichtigsten Lebensrollen, die von den Probanden genannt wurden, sind: ihre Beziehung mit sich selbst, ihrem Ehepartner, ihrer Familie, ihrem Arbeitsplatz, ihren Freunden und der Gemeinschaft, in der sie leben. Es wurde festgestellt, dass in jeder dieser Rollen Menschen Zyklen durchleben, die nach festen, auch jenseits der verschiedenen Reaktionen und Bezugsrahmen des jeweiligen Probanden klar erkennbaren Mustern entstehen. Das typische Entwicklungsmuster war zyklisch und umfasste vier unterscheidbare Stufen: Initiierung, Anpassung, Neubewertung, Versöhnung.
Bei jeder Interaktion eines Menschen mit der Welt muss er das Beste aus seinen intellektuellen und emotionalen Reserven herausholen. Und zwar in verschiedenen Prozessen je nachdem, auf welcher Stufe des Zyklus er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet.
Als Erstes muss er all seine Reserven investieren, um die Interaktion zu initiieren. Ist das Beziehungsmuster hergestellt, müssen sich seine ganzen Kräfte darauf konzentrieren, sich der neuen Situation anzupassen. Nachdem die Anpassung ab-
geschlossen und die Situation vertraut und gewohnt ist, rückt er zur nächsten Stufe vor – der Bewertung des neuen Beziehungsmusters. Diese Stufe des Zyklus hat mit einem neuen, objektiveren Blick auf sein Leben in dem betreffenden Bereich zu tun, der auf einem tieferen, eine realistischere Neubewertung ermöglichenden Verständnis gründet. Dies ist die wichtigste Stufe der Entwicklung, des persönlichen Wachstums und des Strebens nach Veränderung. In der letzten Phase tritt Versöhnung ein, wenn der Betreffende die Vorteile und Nachteile der Situation, in der er sich befindet, bereits kennt und weiß, was er verändern kann und was er akzeptieren muss, um weiterzukommen.
Der jüdische Jahreszyklus markiert den Beginn des geregelten Zyklus der erneuerten Interaktion zwischen dem Menschen und seinem Gott, zwischen sich selbst und seiner Welt. Er umfasst zwölf Monate, von denen der erste, Nissan, die Stufe der »Initiierung« vertritt. Er ist ein Monat des Neuanfangs sowohl in der jüdischen Geschichte (Pessach, der Exodus) als auch in der Natur (Frühling). Dieser Monat leitet das erste Quartal des Jahres ein, in das auch Schawuot fällt, ebenfalls verbunden mit Anfängen von sowohl historischer als auch natürlicher Bedeutung (Empfang der Tora und Zeit der Ernte).
Dann kommt der zweite Teil des Jahreszyklus, eine recht statische Periode ohne besondere Ereignisse und Feiertage oder dramatische Veränderungen in der Natur. Er kann als der »ruhige« Teil des Interaktionszyklus beschrieben werden – die Stufe der Anpassung.
Die dritte Stufe, die Phase der Neubewertung, beginnt im Monat Tischri. Hier haben wir es wieder mit einer dynamischen, stürmischen Phase zu tun, die die Hohen Feiertage einschließt, Tage der Selbstprüfung, der Buße und der Notwendigkeit, in allen Lebensrollen Rechen-schaft abzulegen. Der Jahreszyklus endet mit der Stufe der Versöhnung, im Winter, einer vergleichsweise ruhigen Phase im Zyklus der religiösen Ereignisse und auch der Veränderungen in der Natur.
Rosch Haschana und Jom Kippur fallen in den Jahresabschnitt, der mit dem dritten Quartal beginnt. In dieser Zeit durchläuft ein Mensch einen Prozess der Neubewertung aller Aspekte seines Lebens. Der Prozess kann ihn motivieren, sein Leben in Ordnung zu bringen und sich weiterzuentwickeln – ein Prozess, ähnlich der Tschuwa, der Reue. Das ist die Stufe der Rechenschaft, wenn ein Mensch aus seinen intellektuellen und moralischen Reserven schöpfen muss, um seine Situation richtig bewerten zu können. Diese Neubewertung sollte ihn motivieren, Veränderungen vorzunehmen, Reue zu empfinden. Aber es sollte ihn auch zur späteren Stufe der Aussöhnung mit dem, was er nicht ändern kann, führen.

Die Autorin ist Dozentin an der Abteilung Psychologie der Bar-Ilan-Universität, Ramat-Gan/Israel; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien. www.biu.ac.il

Geiseldeal

Itay Chen ist wieder in Israel

Die Leiche des 19-jährigen, israelisch-amerikanischen Soldaten wurde am Dienstagabend von Terroristen der Hamas übergeben

 05.11.2025

Jerusalem

Nach Eklat in Jerusalem: Westfälische Präses setzt auf Dialog

Projekte, Gedenkorte und viele Gespräche: Die Theologin Ruck-Schröder war mit einer Delegation des NRW-Landtags fünf Tage in Israel und im Westjordanland. Angesichts der Spannungen setzt sie auf dem Weg zur Verständigung auf Begegnungen und Dialog

von Ingo Lehnick  06.11.2025 Aktualisiert

Terror

Hamas übergibt erneut Leichen an Rotes Kreuz

Die Hamas hat dem Roten Kreuz erneut Leichen übergeben. Ob es sich bei den sterblichen Überresten in drei Särgen wirklich um Geiseln handelt, soll nun ein forensisches Institut klären

 02.11.2025

Augsburg

Josef Schuster und Markus Söder bei Jubiläumsfeier von jüdischem Museum

Eines der ältesten jüdischen Museen in Deutschland feiert in diesem Jahr 40-jähriges Bestehen. Das Jüdische Museum Augsburg Schwaben erinnert mit einer Ausstellung an frühere Projekte und künftige Vorhaben

 29.10.2025

Interview

»Wir sind für alle Soldaten da«

Shlomo Afanasev ist Brandenburgs erster orthodoxer Militärrabbiner. Am Dienstag wurde er offiziell ordiniert

von Helmut Kuhn  29.10.2025

Bayern

Charlotte Knobloch kritisiert Preisverleihung an Imam

Die Thomas-Dehler-Stiftung will den Imam Benjamin Idriz auszeichnen. Dagegen regt sich nicht nur Widerstand aus der FDP. Auch die 93-jährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens schaltet sich nun ein

von Michael Thaidigsmann  29.10.2025

Jerusalem

Karin Prien in Yad Vashem: »Jedes Mal für mich erschütternd«

Bei ihrer Israel-Reise erinnert die Bildungsministerin an die Millionen Opfer des Holocaust. Der Moment berührt die CDU-Politikerin auch aus einem persönlichen Grund

von Julia Kilian  28.10.2025

Bildungsministerin

Karin Prien reist nach Israel

Die CDU-Ministerin mit jüdischen Wurzeln will an diesem Sonntag nach Israel aufbrechen. Geplant sind Treffen mit dem israelischen Bildungs- und Außenminister

 26.10.2025

München

Paul Lendvai: »Freiheit ist ein Luxusgut«

Mit 96 Jahren blickt der Holocaust-Überlebende auf ein Jahrhundert zwischen Gewalt und Hoffnung zurück. Besorgt zeigt er sich über die Bequemlichkeit der Gegenwart - denn der Kampf »gegen das Böse und Dumme« höre niemals auf

 21.10.2025