Davos

Koscher auf dem Zauberberg

von Peter Bollag

Auf dem Bahnhof in Davos stehen zwei Jungen und diskutieren über die feuerrote Lokomotive der Rhätischen Bahn, die eben einfährt. »Ist dies das Modell 2000?«, fragt der eine. Der andere schüttelt den Kopf, dann zeigt er auf seine Uhr: »Der Zug hat zwei Minuten Verspätung!« Das Besondere an diesem Dialog ist, dass die beiden Jungen Hebräisch sprechen. Sie tragen schwarze Kippot, an ihren kurzen Hosen baumeln weiße Schaufäden im Wind. Die beiden Jungen sind zusammen mit ihrem Großvater, einem Chassiden mit langem weißen Bart, auf dem Bahnhof erschienen, um Verwandte vom Zug abzuholen.
Orthodoxe jüdische Touristen, oft mit Rucksack und Wanderschuhen, zieht es in diesen Augusttagen nach Tischa B’Aw zu mehreren Hundert in die Schweizer Berge. Viele reisen in die Berner, Walliser und Bündner Alpen. Dort, im Kanton Graubünden, der sich gerne »die Ferienecke der Schweiz« nennt, zählt Davos zu den attraktivsten Zielorten jüdischer Gäste aus der ganzen Welt.
Weniger präsent dürfte den meisten die dunkle Seite der kleinen Stadt sein: Davos war in den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft eine Hochburg der Schweizer Hitler-Jünger – bis 1936 der jüdische Student David Frankfurter den »Gauleiter« Wilhelm Gustloff erschoss und die Berner Regierung dem Treiben der braunen Gesellen danach Einhalt gebot.
In jenen Jahren gab es bereits die Lungenheilstätte »Etania«. Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg gegründet, jüdische Gäste erholten sich hier in der Höhe der Bündner Berge von ihrer heimtückischen Krankheit – ähnlich wie Hans Castorp, dem Thomas Mann in seinem Zauberberg zusammen mit der Stadt Davos zu Weltruhm verholfen hat. Die »Etania« ist längst Vergangenheit, auch als Hotel. Das Gebäude, um das sich heute ein Verein kümmert, müsste dringend saniert werden, doch dafür fehlt das Geld. Und weil das altehrwürdige Haus in der Lawinenzone liegt, darf es nicht abgerissen werden.
In der Nähe der »Etania« ballt sich diesen Sommer jüdisches Leben: Im ehemaligen holländischen Sanatorium, das geraume Zeit leer gestanden hat, wurde ein kleines Hotel mit Synagoge und koscherem Restaurant eingerichtet. Wer dieser Tage am Morgen hierherkommt, kann zwischen sieben und elf Uhr fast im Stundentakt am Morgengottesdienst teilnehmen. Auf diese Art verteilen sich die Beter, denn der Andrang ist groß. Kinder und Erwachsene stehen am Eingang um einen Eisverkäufer, ein Plakat kündigt verschiedene Schiurim, religiöse Unterrichtsstunden, an. Die düsteren Räumlichkeiten strahlen allenfalls dezente Ferienstimmung aus, doch es scheint niemanden zu stören, ist es doch allemal besser als im vergangenen Jahr: Damals mussten sich die Beter mit einer provisorischen Synagoge in einem Luftschutzkeller begnügen.
»In der ›Etania‹ hatten wir früher im Sommer maximal 100 Leute«, erinnert sich der aus Deutschland stammende Nathan Königshöfer, der die Heilstätte zwischen 1973 und 1991 leitete. Dass große Rabbiner wie der Kalewer Rebbe nach Davos kamen, machte den Ort unter Chassiden schnell – und dauerhaft – populär.
Das freut auch Rafi Mosbacher. Der Zürcher Kaufmann möchte jüdisches Leben in der 13.000-Einwohnerstadt nicht nur im Sommer, sondern das ganze Jahr über verankern. »Es ist ein idealer Platz für jüdische Touristen«, schwärmt er und nennt die relativ leichte Erreichbarkeit des Ortes mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch lobt er den Umstand, dass auch große Familien sich hier gut bewegen können.
»Wenn ihr jüdischen Tourismus wollt, müsst ihr mir helfen«, wandte Mosbacher sich unlängst an die Davoser Kurverwaltung – und war wohl selbst ein wenig überrascht, als er positive Antwort erhielt. Denn noch vor wenigen Jahren geisterten Berichte durch die Medien, die nichts Gutes von orthodoxen jüdischen Touristen in Schweizer Kurorten erzählten: Besitzer von Ferienwohnungen klagten über Schäden, Café- und Restaurantbetreiber jammerten, die jüdische Klientel konsumiere allenfalls Mineralwasser oder bleibe völlig aus.
Solche Vorwürfe, glaubt Rafi Mosbacher, seien zwar noch nicht ganz verschwunden, ebenso wenig wie manche antisemitische Äußerung, die oftmals von anderen Touristen kommt. Aber blickt man auf die Promenade und andere Straßen im Zentrum von Davos, so merkt man, dass die zahlreichen, meist schwarz gekleideten Gäste aus Israel, den USA, Antwerpen kaum auffallen. Man hat sich an sie gewöhnt, so wie sich in großen europäischen Städten niemand mehr über japanische oder arabische Gäste wundert.
Denn: Auch jüdische Touristen geben Geld aus. Die gut sortierten Koscher-Abteilungen eines Großhändlers werden in diesen Tagen schon am Morgen oft regelrecht gestürmt. Andere Lebensmittelgeschäfte profitieren ebenso – etwa ein örtlicher Bäcker, der sich entschlossen hat, auch koschere Produkte anzubieten.
Zusammen mit chinesischen, indischen und russischen Feriengästen haben jüdische Touristen in den vergangenen Jahren für zweistellige Zuwachsraten im Urlaubsland Schweiz gesorgt. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn die Gäste würden nach Nationalität und nicht nach Religionszugehörigkeit erfasst, beteuert Cornelia Lindner vom Tourismusbüro Davos. Doch wenn an einem Schabbat im August in der Stadt rund 1.300 Challot bestellt werden, kann man davon ausgehen, dass sich im Sommer gewiss mehrere hundert, wenn nicht gar tausend jüdische Kurgäste in Davos aufhalten.
Ideal sei, meint Lindner, dass man in Rafi Mosbacher einen Gesprächspartner habe, der beide Mentalitäten gut kenne. So entstand in den vergangenen Jahren auch ein Merkblatt »Tipps und Hinweise für jüdische Feriengäste in der Landschaft Davos«. Das Merkblatt klärt jüdische Gäste über Erlaubtes und Verbotenes auf und scheint nach Lindners Worten durchaus Früchte zu tragen: »Wir haben kaum Klagen von Ferienwohnungsbesitzern.«
Rafi Mosbacher hofft, dass sich in Davos dauerhaft ein koscheres Hotel etablieren kann – denn die Lösung mit dem holländischen Sanatorium ist auf diesen Sommer beschränkt. Der Besitzer möchte an dieser Stelle, nur einen Steinwurf vom Davoser Kongresszentrum entfernt, ein Luxushotel errichten. Falls er die Bewilligung zum Abriss nicht erhält, dann könne er sicher sein, so Rafi Mosbacher, dass man wieder bei ihm anklopfen werde für den Sommer 2009 – und vielleicht darüber hinaus.

Interview

»Sehr präzise und äußerst wirksame Schläge«

Arye Sharuz Shalicar über Israels Angriff auf den Iran, die Situation der iranischen Bevölkerung und die Zukunft des Mullah-Regimes

 15.06.2025

Krieg

Jerusalem warnt Menschen im Iran vor möglichen neuen Angriffen

In bestimmten Gebieten des Irans stehen offensichtlich neue Angriffe bevor. Israels Militär ruft die iranische Bevölkerung zur Evakuierung auf

 15.06.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Juni bis zum 18. Juni

 11.06.2025

Tel Aviv/Gaza

Israel will Ankunft von Thunbergs Schiff in Gaza verhindern

Das Schiff des Bündnisses Freedom Flotilla Coalition ist unterwegs nach Gaza. Nach Angaben der Aktivisten nähern sie sich immer mehr dem Gebiet - Israel droht ihnen nun

 08.06.2025

Petition

Deutsche Prominente werfen Israel Völkermord vor

Die Unterzeichner verlangen eine Aussetzung von Rüstungsexporten

 05.06.2025

Bundestag

Wegen »Palestine«-Shirt: Linken-Abgeordnete des Plenarsaals verwiesen

Mit der politischen Botschaft auf ihrer Kleidung hatte Cansin Köktürk offenbar gegen die Regeln des Hauses verstoßen. Die Bundestagspräsidentin zog die Konsequenz

 04.06.2025

Medien

Presseschau zur Debatte um Deborah Feldmans »Weltbühne«-Artikel

In dem Blatt des umstrittenen Verlegers Holger Friedrich zieht die Autorin die Jüdischkeit des Chefredakteurs der Jüdischen Allgemeinen in Zweifel. In Zeitungskommentaren wird nun vernichtende Kritik an ihrem Text geübt

 26.05.2025

Israel

Geisel-Angehörige fordern Ende des »Albtraums«

Seit bald 600 Tagen hält die Hamas noch 58 lebende und tote israelische Geiseln im Gazastreifen fest. Israelis demonstrieren vehement für ihre Freilassung und fordern ein Ende des Krieges

 24.05.2025

Nachrichten

Strände, Soldat, Flüge

Kurzmeldungen aus Israel

von Sabine Brandes  21.05.2025