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Kol Nidre für Ungläubige

Die Tradition wirft lange Schatten – insbesondere an Rosch Haschana und Jom Kippur. Foto: Thinkstock

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Kol Nidre für Ungläubige

Warum ich als Säkularer an den Hohen Feiertagen in die Synagoge gehe

von Michael Wuliger  24.09.2023 00:07 Uhr

Vor Jahren hatte ich eine aus Osteuropa stammende nichtjüdische Freundin. Als unsere Beziehung mehrere Monate alt und damit stabil genug war, um auch einmal leichte Kritik auszuhalten, sprach ich meine Liebste eines Tages auf etwas an, das mir aufgefallen war: Wenn sie Fleischgerichte zubereitete, waren diese immer etwas versalzen. Das, erklärte sie mir, könnte daran liegen, dass sie das Fleisch immer vor dem Braten eine halbe Stunde salze, um das noch vorhandene Blut zu entfernen. Ihre Großmutter habe ihr das so beigebracht.

Ich wurde neugierig und fragte, was für Gewohnheiten diese Großmutter noch gepflegt hatte. Nun, sie habe immer freitagabends Kerzen entzündet, weil das Wochenende anfing; wenn sie Milch aufkochte, benutzte sie dafür stets einen besonderen Topf; und an Ostern backte sie ein besonderes Brot, das ein bisschen aussah wie Knäcke. Ob die Großmutter vielleicht jüdisch war, fragte ich. Nein, keinesfalls: Sie sei eine sehr fromme Katholikin gewesen. Ich hakte nach: Wie denn der Mädchenname der Großmutter gelautet habe? »Fried« war ihre Antwort.

Gewohnheiten Ob die Großmutter zum Katholizismus übergetreten war oder schon ihre Mutter getauft wurde, vielleicht sogar schon die Großmutter der Großmutter, das wusste meine Freundin nicht. Aber hier waren über Generationen und etwaige Glaubenswechsel hinaus Gewohnheiten weitergegeben und weiter gepflegt worden, obwohl deren Sinn nicht mehr verstanden wurde. Für mich ist das, wenn nicht die, so doch zumindest eine Definition von Tradition.

Ich selbst bin in einer assimilierten Familie aufgewachsen, in der jüdische Traditionen kaum mehr eine Rolle spielten. Vom Judentum waren nur noch kümmerliche Reste geblieben: ein vager liberaler Universalismus, ein paar jiddische Wörter, Speisen wie Gefilte Fisch und stolze Verweise auf die bedeutsame Rolle von Juden in der westlichen Kultur und Wissenschaft. Dazu – das allerdings ziemlich ausgeprägt – die Gewissheit, dass der Antisemitismus allgegenwärtig war.

Mit diesen dürren Rudimenten habe ich mich lange Jahre zufriedengegeben. Ich nannte das »Kulturjudentum«. Ein hübscher Begriff, der eigentlich nur eine hochtrabende Umschreibung für meine religiöse Ignoranz war.

In den letzten Jahren hat sich das etwas geändert. Nicht, dass ich Baal Teschuwa geworden wäre und zum Glauben zurückgefunden hätte. Ich bin noch immer das, was fromme Juden einen »Apikojres« nennen, einen vom Glauben Abgefallenen. Weder halte ich die Speisegesetze ein, noch die Schabbatregeln. Aber immerhin wünsche ich jüdischen Freunden freitagabends »Gut Schabbes«, zünde an Chanukka Kerzen, esse zu Pessach Mazzen und gehe an den Hohen Feiertagen in die Synagoge. An Jom Kippur faste ich sogar.

Atheismus Warum? Ich weiß es nicht. Ist es Altersreligiosität, wie einige verwunderte nichtjüdische Bekannte vermuten? Möglich. Mit 65 ist man dem pubertären Atheismus der Jugend allmählich entwachsen. Wenigstens ein bisschen klüger wird man mit den Jahren schon.

Oder ist es der Umgang mit jüdischen Freunden – »Peer Group Pressure«, wie Soziologen das nennen, also sozialer Druck? Eher unwahrscheinlich. Mein jüdisches Umfeld ist ebenso lax in der Einhaltung der Gebote, wie ich es bin.

Wenn man mich fragt, warum ich seit geraumer Zeit einige Regeln des jüdischen Glaubens befolge, lautet meine erste Antwort meist: aus Respekt vor der Tradition. Doch das trifft es nicht wirklich. »Respekt vor der Tradition« klingt in meinen eigenen Ohren etwas phrasenhaft, als ginge es um gute Manieren: Man lässt der Dame an der Tür den Vortritt, und man geht an den Hohen Feiertagen beten.

Chassidim Eine bessere Erklärung wäre: weil es mir ein Bedürfnis ist. Woher dieses Bedürfnis kommt, kann ich selbst nicht genau bestimmen. Es ist schlicht da. Logisch gesehen, mag das ein Zirkelschluss sein. Aber Gefühle folgen nicht der Logik. Wenn ich an Jom Kippur nicht in die Synagoge gehe, fühle ich mich schlecht. Wieso, weiß ich nicht. Aber es ist so. Also gehe ich.

Chassidim würden mir das wahrscheinlich mit meiner jüdischen Seele erklären, die durch alle Wucherungen von Kultur und Sozialisation hindurch zu Gott strebt. Mag sein. So könnte man »Tradition« jedenfalls auch definieren. Oder in den säkularen Worten eines berühmten ungläubigen Juden, Sigmund Freud.

Er sei, schrieb der Begründer der Psychoanalyse 1934, jemand, »der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdische empfindet und sie nicht anders wünscht«.

Wenn man ihn fragen würde, was an ihm noch jüdisch sei, wo er doch alle Gemeinsamkeiten mit seinen »Volksgenossen aufgegeben« habe, so würde er – bekennt Freud – antworten: »Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen.«

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