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Jeschiwa für alle

Samstagnacht 23 Uhr. Im Kultraum der konservativen Beth-Shalom-Gemeinde in Seattle sitzen etwa 100 Menschen um Tische aus dunklem Holz und studieren Talmudtexte sowie rabbinische Kommentare und zeitgenössische Interpretationen. Es könnte eine Jeschiwa-Szene sein – doch anstelle von bärtigen Männern in schwarzen Anzügen haben sich Männer und Frauen verschiedenen Alters (und in gewöhnlicher Kleidung) versammelt, um jüdische Texte zu lernen. Einige sind zum ersten Mal da.
Das Studium an einer Jeschiwa ist seit Langem eine Hauptstütze der orthodoxen Gemeinschaft. In jüngster Zeit möchten immer mehr Juden aller Richtungen und jeden Alters jüdische Texte lernen – nach Jeschiwa-Art, doch ohne die hergebrachte Talmudschule.
Inzwischen gibt es in den USA eine Vielfalt von Programmen. Einige sind länger dauernde Veranstaltungen, andere bieten jeden Monat an 14 verschiedenen Orten ein gemeinsames Seminar. Das beliebte Limmud, das vor 25 Jahren in England gegründet wurde, 2005 den Atlantik überquerte und seit einigen Jahren auch in Deutschland bekannt ist, bietet viertägige Intensivkurse vom Textstudium bis zu Vorträgen über Meditation und Kabbala.

Jeschiwa-flair Bei Beth Shalom in Seattle soll das gemeinschaftliche Studium an einem Wochenende den Teilnehmern eine Jeschiwa-Umgebung vermitteln und sie fürs Textstudium begeistern. Rabbi Ethan Tucker, Mitbegründer von Mechon Hadar, einer egalitären, nicht anerkannten Vollzeit-Jeschiwa in New York, hat mit der Rabbinerin der Synagoge, Jill Borodin, das »Beth-Shalom-Jeschiwa-Erlebnis« ins Leben gerufen. In Fünfer- und Sechser-Gruppen lesen die Teilnehmer Abschnitte aus Mischna und Talmud, den dazugehörigen Raschi-Kommentar und Erklärungen von Rabbi Lifshitz aus dem 19. Jahrhundert. Danach versuchen sie, die Texte zu deuten. Die Frage des Abends lautet: Können Nichtjuden »Adam« genannt werden – was allgemein Mensch bedeutet, in diesem Fall aber auch die Kinder des biblischen Adams meinen könnte?
»Adam ist für Juden von besonderer Bedeutung, weil sie, wie Adam, in eine Erwachsenenbeziehung hineingeboren wurden. Statt dass sie für sich selbst kämpfen mussten, erhielten sie die Tora«, erklärt Diane Douglas, eine der fünf Gruppenteilnehmer, die den Text laut lesen. »Nichtjuden mussten es allein schaffen«, versucht sie sich in der Textexegese.
Bei der Diskussion über die Deutung der Texte fühlen sich die einen mehr, die anderen weniger wohl. Und auch wenn Tucker die Sitzung mit einer Erläuterung schließt – »Adam« heiße nicht Mensch, sondern »derjenige, der die Art des Adam erlebt« –, stellt sich die Frage, ob unerfahrene Anfänger überhaupt mit derart problematischen Texten arbeiten sollten.

heikle Themen »An solch schwierige Texte gehe ich immer mit großen Bedenken heran, denn man verliert immer einige Teilnehmer«, sagt Tucker später. Das halte ihn aber nicht davon ab, weiterhin gerade diese Inhalte zum Gegenstand des Unterrichts zu machen.
»Das sind genau die Diskussionen, die von der großen Mehrheit der Teilnehmer gewünscht werden«, sagt er – Themen wie die Beziehung zu Nichtjuden oder Gender-Fragen, über die auch an diesem Wochenende debattiert wird. »Ich habe in meinem Leben einen Punkt erreicht, wo ich glaube, dass ich aus allem, was mein gewohntes Denken infrage stellt, etwas lernen kann«, sagt Jim Mathieu, ein Nichtjude, der mit einer Jüdin verheiratet ist. Er erzieht seine Kinder jüdisch und will mehr über das Konversionsverfahren erfahren. Und auch bei heiklen Themen, wie Juden versus Nichtjuden, will Mathieu die dahinterstehende Absicht verstehen. »Selbst wenn ich mich nicht ganz wohl dabei fühle, kann ich vielleicht Weisheit darin erkennen«, sagt er.

aktualität Während die traditionelle Jeschiwa über Jahre hinweg vor allem vom praktischen Leben völlig losgelöste Themen unterrichtet, etwa talmudische Traktate über das Opfer oder andere frühere Rituale, konzentriert sich der Großteil dieser Programme auf Fragen, die bis heute von Bedeutung sind. Beim Global Beit Midrash des Hartman-Instituts, das monatlich per Videokonferenz Teilnehmer aus 14 nordamerikanischen Orten zusammenbringt, geht es in diesem Jahr um die Fragen: »Wer ist Jude?« und »Die Grenzen der Mitgliedschaft: der jüdische Outsider«.
Bei diesen Sitzungen hören die Teilnehmer zuerst einen Vortrag eines Lehrers vom Jerusalemer Institut, und danach lernen sie auf eigene Faust einen Text nach Chewruta-Art. Mithilfe der Videoschaltung werden Fragen gestellt – so können zum Beispiel Studierende in Washington Studierende in Los Angeles hören. Obgleich das Videobild nicht besonders gut ist und der Ton der Echtzeit etwa 30 Sekunden hinterherhinkt, sind die Teilnehmer miteinander verbunden. »So entsteht eine virtuelle Gemeinde aus 300 Menschen, die zusammen lernen«, sagt Rabbi Alfredo Borodowski, verantwortlicher Direktor der American Friends of the Hartman Institute. Oft endeten die Vorträge und Diskussionen ohne Ergebnis. »Uns liegt viel an einer pluralistischen Herangehensweise, wir sagen unse- ren Teilnehmern nicht, was ›das Judentum‹ meint«, so Borodowski.
Wie viele der Lernprogramme nach Jeschiwa-Art hat auch Hartman keine eindeutige Ideologie im Angebot. Denn gerade das führt zu gehaltvollen Gesprächen. »Vielen Menschen gefällt diese Methode«, sagt Borodowski. »Denn genau das ist Judentum: eine Tradition, die auf der Debatte zwischen verschiedenen Denkweisen basiert.«
Rabbi Tucker hofft, dass die Wochenendteilnehmer im Rahmen des Studienprogramms für Erwachsene weiterlernen werden – und dass Projekte wie dieses in Seattle nicht einmalig bleiben. »Unser Traum ist, dass man sich überall, wo man hinkommt, an derartigen jüdischen Gesprächen beteiligen kann, so wie man an jeder Ecke einen Minjan finden kann.«

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