Ende der Nachkriegszeit

Hurra, wir sind therapiert

von Sylke Tempel

Wann eigentlich ist die »Nachkriegszeit« beendet? Wann darf man von einer glücklichen »Aufarbeitung der Vergangenheit« sprechen, die ein reines Gewissen und einen von schweren Gedanken ungetrübten Alltag erlaubt?
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat darauf eine kuriose Antwort gefunden. Mit der Wahl des deutschen Kardinals Joseph Ratzinger zum Papst habe die Beschäftigung mit der Vergangenheit ihren erfolg-reichen Abschluss gefunden. Sie setze »ein Zeichen von überwältigender Deutlichkeit, das besagte: Eine deutsche Herkunft muss kein Grund mehr für Vertrauensentzug sein; ein deutscher Name kann wieder ein Integritätssymbol höchsten Niveaus darstellen. Die Wahl wirft unverkennbar ein Licht auf die sechzigjährige Arbeit der Deutschen an sich selbst.« Hurra, wir sind therapiert, vertrauenswürdig und vor allem: ein Vorbild für die gesamte Welt.
Sloterdijk wäre nicht der Philosoph mit Hang zum Verquasten, hätte er sich direkt dem Thema der Normalisierung gewidmet. Seine These findet sich in dem eben bei Suhrkamp erschienenen Bändchen »Theorie der Nachkriegszeiten«, einer Rede zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Natürlich interessiert ihn dabei nicht das Geflecht alltäglicher Händel, sondern der Prozess, den er »Metanoia« nennt. Kurz umrissen lautet er so: Kriegsverlierer müssen »aus Niederlagen die richtigen Konsequenzen ziehen und sie im kulturellen Gedächtnis verankern«. Sieger dürfen bleiben wie sie sind.
Frankreich hat den Krieg eigentlich verloren, sich aber die Lebenslüge geleistet, ihn gewonnen zu haben – weshalb die Rechte von de Gaulle bis Sarkozy sich den Status einer Grande Nation zuschreibt, den sie gar nicht verdient. Und die Linke sich in ihrer unverbrüchlichen Treue zum Sozialismus gewissermaßen zu Über-Widerstandskämpfern stilisierte – was in der Tat reichlich hanebüchen ist. Die Franzosen müssen also im Fach »Metanoia« eine Runde nachsitzen. Wir Deutsche hingegen haben die Lektion gelernt, da es an unserer Niederlage ja nichts zu rütteln gab. Und weil das so ist, sind wir in einer Art politischem Nirwana gelandet. Wir »interessieren uns nicht mehr« für Frankreich, diesen Konkurrenten und »Hasspartner«, an dem man sich jahrhundertelang so tragisch gerieben hat. Derart geläutert über den Dingen zu stehen, so Sloterdijk, sei ein erstrebenswerter Zustand, den er auch für die Beziehungen zu den USA und Israel empfiehlt. Die »überhitzen« ja auch leicht.
So könnten wir ungestört auf unserer Insel der Seligkeit leben, würden linksliberale und »semi-totalitäre Medien« nicht dazu neigen, reflexhaft immer wieder auf der Vergangenheit herumzureiten und dabei »symbolische Lynchaktionen« anzuzetteln. Unter anderem gegen Martin Walser, diesen »fleißigsten Arbeiter im Weinberg der Erinnerung«. Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, der in seiner Paulskirchenrede gefordert hatte, endlich wegsehen zu dürfen von der deutschen Schuld, ist für Sloterdijk ohnehin ein Held. Ihm widmet er ein ganzes Kapitel. Denn Walser, habe sich »unanständig früh« die Freiheit genommen, überhaupt die Möglichkeit der Normalisierung in Aussicht zu stellen.
Sloterdijks Thesen sind erschütternd. Nicht nur wegen der Verteidigung Walsers, diesem famosen »Aufarbeiter«, der es fertiggebracht hatte, mit seinem Roman »Tod eines Kritikers« ein durch und durch antisemitisches Machwerk in die Welt zu setzen. Auch nicht, weil Sloterdijk in einen Chor einstimmt, der im Grunde schon seit dem 8. Mai 1945 das Lied von der Sehnsucht nach Normalität probt.
Sloterdijks Thesen sind erschütternd, weil der Philosoph nicht im Ansatz versteht, was dieser, zugegeben völlig in die Irre führende, Begriff »Vergangenheitsbewältigung«, überhaupt bedeutet. Es ist egal, ob er das vornehmere »Metanoia« bevorzugt. Sein Irrtum ist: Es gibt keine eindeutige Konsequenz, die im kollektiven Gedächtnis verankert werden könnte, keine erfolgreich abgeschlossene Therapie und schon gar kein politisches Nirwana. Es gibt nur eine ständige Auseinandersetzung zunächst um die Frage, was genau geschehen war. Jetzt widmen wir uns der viel anspruchsvolleren und vermutlich bis auf Weiteres andauernden Debatte, warum es geschehen konnte.
Es geht nicht darum, eine Integrität errungen zu haben – deutscher Papst hin oder her, sondern darum, sie immer wieder zu erringen. Es wäre die völlig falsche Konsequenz, sich zu desinteressieren. Gibt es überhaupt eine Lehre, dann diese: sich zu interessieren, und zwar brennend. Für die Frage, was moralisches Handeln in einer Welt bedeutet, in der Völkermorde wie in Darfur ungehindert stattfinden können. Oder wie mit einem Regime zu verfahren ist, das Massenvernichtungswaffen herstellen will und einem anderenLand die Vernichtung androht.
Ganz klar: Im Fach »Metanoia« sollte Sloterdijk zusammen mit den Franzosen nachsitzen.

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