Torawimpel

Heilige Handarbeit

von Annette Wollenhaupt

Feingewebte naturbelassene Leinenstreifen liegen auf dem langen Tisch im Saal des jüdischen Gemeindezentrums Mainz. Aus einer milchig-weißen Plastikbox leuchtet Stickgarn: alle Farben Rot. Am Kopf des Tisches hat Kursleiterin Irene Kaufmann ihren Stickrahmen aus Buchenholz festgeklemmt.
Ein Dutzend Frauen läßt sich am Tisch nieder; sie sprechen russisch, lachen, packen ebenfalls ihre Stickrahmen aus. Manche sind aus altgewordenem dunklem Holz, andere Rahmen aus buntem Plastik. Die Frauen, junge wie alte, sind gekommen, um unter Anleitung von Irene Kaufmann einen Torawimpel zu besticken. Anlaß ist die Geburt des Sohnes von Ge- schäftsführer Janusz Kuroszczyk.
In der Gemeinde dachte man über ein geeignetes Geschenk für den Geschäftsführer nach und kam auf die Idee, einen Torawimpel zu besticken. Die alte jüdisch-aschkenasische Tradition ist den ausschließlich russischsprachigen Frauen – 95 Prozent der Mainzer Gemeindemitglieder kommen aus der ehemaligen Sowjetunion – nicht vertraut. Es besteht also Klärungsbedarf. Und Irene Kaufmann, die sich auf das Besticken traditioneller jüdischer Textilien spezialisiert hat, erzählt von jener Sage, derzufolge der Mainzer Rabbiner Jakob ben Moses haLevi Mölln (Maharil) Ende des 14. Jahrhunderts die Torawimpeltradition eingeführt haben soll.
Sie erzählt, daß der Maharil einer Beschneidung beiwohnte, bei der eine Windel fehlte. Er kam auf die Idee, einfach den vorhandenen Torabinder zu verwenden. Dieser sollte allerdings nach gründlichem Waschen »wieder zur Tora kommen«. Bis etwa 1850 habe man die Torawimpel bestickt, später wurden sie bemalt. Die Frauen erfahren auch, daß Juden im Elsaß, in der Schweiz und in Tschechien diese Tradition bis heute pflegen.
Dann hält Irene Kaufmann die vier schmalen Leinenbahnen hoch, jede einzelne, die zusammengenäht ein dreieinhalb Meter langes Band ergeben werden. Mit Bleistift hat sie Worte in Hebräisch aufgezeichnet, die später einmal den erwachsenen Mann an seine Britmila und die damit verbundenen guten Wünsche fürs Leben erinnern werden. Daran, daß er »zur Tora und zur Chuppa wachsen solle«.
Weil das Gros der Frauen nur über geringe Deutschkenntnisse verfügt, übersetzt Polina Pikman jede einzelne Information. Die 58jährige hat sich darauf gut vorbereitet. Auf einem kleinen Zettel hat sie notiert, was »Stickrahmen«, »Plattstich«, »Stielstich« und vor allem »Kettenstich« auf russisch heißt. Denn den brauchen die Frauen an diesem Sonntag besonders.
Irene Kaufmann erklärt auch jene Symbole, die, um den Schriftzug abzukürzen, in diesen aufgenommen werden können. Eine Schlange beispielsweise. »Sie können aus dem ›l‹ von ›nolad‹ eine Schlange drehen«, sagt sie und läßt einen Bildband herumgehen, in dem besonders gelungene und mit Symbolen reichverzierte Torawimpel abgebildet sind.
Elana Kelman blättert darin, kichert wie ein junges Mädchen. Die Torawimpel amüsieren sie. »Warum hat denn der Bock nur zwei Beine?«, murmelt die 38jährige glucksend ihrer Nachbarin Iryna Avdyeyeva zu. Dann sieht sie doch noch die beiden vermißten Extremitäten. Alle vier wurden vom Wimpelgestalter ungewohnt weit nach hinten plaziert. »Er hat große Brust«, lacht Elena Kelman. Die anderen üben längst schon das Sticken.
Iryna Avdyeyeva hat ihre Brille abgesetzt, sie hält ihren Stickrahmen ganz nah an die Augen, zielt mit Nadel und Garn in das von ihr anvisierte winzig kleine Webloch. »Das ist nicht so schwer«, sagt die in der Ukraine Geborene, »man muß nur den Wunsch haben.« Für Vassilieva Ezalia, die vor acht Jahren aus St. Petersburg nach Deutschland kam, ist das Sticken nichts Neues. Während des Zweiten Weltkriegs bestickte sie als Kind in der Schule Handtücher für die Soldaten. »Wir haben unseren Namen draufgestickt und unser Alter.« Es sei gut gewesen, das Gefühl, den Soldaten auf diese Weise zu zeigen, »daß man an sie denkt«.
Anna Malamoud stickt nicht. »Meine Hände sind beide links«, sagt die mollige Frau mit den blitzenden, Wärme ausstrahlenden Augen. Dafür folgt die 58jährige um so interessierter den Ausführungen von Irene Kaufmann. »Wir haben in Moldawien nicht so viele Möglichkeiten gehabt, die jüdische Tradition zu lernen«, sagt sie. Ein Torawimpel sei, so findet sie, »für einen jungen Mann eine sehr gute Erinnerung an die wichtigen Momente des Lebens.« Anna Malamoud hat einen Enkel- sohn und bedauert jetzt, daß sie die Tradition des Torawimpels nicht schon früher kannte. Daß sie ihr neu erworbenes Wissen mit nach Hause nehmen und die Tradition der Torawimpel wiederaufleben lassen, können sich Frauen wie Ina Zvezdoylyadova, die einen 20jährigen Enkel hat, durchaus vorstellen.
Die Zeit vergeht wie im Fluge. Es ist inzwischen Mittag. Liya Visnovata und Zorianna Cnekonina tischen auf. Es gibt leckere Salate, danach schwarzen Tee und selbstgebackenen Kuchen. Ina Zvezdoylyadova, auf deutsch bedeutet ihr Familienname »Sternengucker«, holt ihr kleines russisches Liederbuch hervor. Die Frauen fangen an zu singen. Lieder, die von der Liebe zum Leben erzählen. Und weil all das manchmal eben wichtiger ist, als stur an Plänen festzuhalten, vereinbaren die Frauen kurzerhand, für heute Schluß zu machen, zu Hause die Torawimpelstücke zu besticken und sich ein weiteres Mal zu treffen.

Krieg

Jerusalem warnt Menschen im Iran vor möglichen neuen Angriffen

In bestimmten Gebieten des Irans stehen offensichtlich neue Angriffe bevor. Israels Militär ruft die iranische Bevölkerung zur Evakuierung auf

 15.06.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Juni bis zum 18. Juni

 11.06.2025

Tel Aviv/Gaza

Israel will Ankunft von Thunbergs Schiff in Gaza verhindern

Das Schiff des Bündnisses Freedom Flotilla Coalition ist unterwegs nach Gaza. Nach Angaben der Aktivisten nähern sie sich immer mehr dem Gebiet - Israel droht ihnen nun

 08.06.2025

Petition

Deutsche Prominente werfen Israel Völkermord vor

Die Unterzeichner verlangen eine Aussetzung von Rüstungsexporten

 05.06.2025

Bundestag

Wegen »Palestine«-Shirt: Linken-Abgeordnete des Plenarsaals verwiesen

Mit der politischen Botschaft auf ihrer Kleidung hatte Cansin Köktürk offenbar gegen die Regeln des Hauses verstoßen. Die Bundestagspräsidentin zog die Konsequenz

 04.06.2025

Medien

Presseschau zur Debatte um Deborah Feldmans »Weltbühne«-Artikel

In dem Blatt des umstrittenen Verlegers Holger Friedrich zieht die Autorin die Jüdischkeit des Chefredakteurs der Jüdischen Allgemeinen in Zweifel. In Zeitungskommentaren wird nun vernichtende Kritik an ihrem Text geübt

 26.05.2025

Israel

Geisel-Angehörige fordern Ende des »Albtraums«

Seit bald 600 Tagen hält die Hamas noch 58 lebende und tote israelische Geiseln im Gazastreifen fest. Israelis demonstrieren vehement für ihre Freilassung und fordern ein Ende des Krieges

 24.05.2025

Nachrichten

Strände, Soldat, Flüge

Kurzmeldungen aus Israel

von Sabine Brandes  21.05.2025

Sachsen-Anhalt

Sachsen-Anhalt: Verfassungsschutz sieht Demokratie bedroht

Im Osten ist die AfD besonders stark. Allerdings etablieren sich auch andere rechtsextremistische Bestrebungen

von Christopher Kissmann  19.05.2025