öffentlich

Gott sieht dich!

von chajm Guski

Die Gesetze des Opferritus, wie sie uns zu Beginn des Wochenabschnitts begegnen, scheinen mit unserem heutigen Leben kaum etwas zu tun zu haben. Entweder beziehen sie sich auf einen Ritus in der Vergangenheit, wie auf den Dienst im Stiftszelt und im Tempel, oder sie gelten erst in einer zukünftigen Zeit, von der wir nicht wissen, wann sie anbrechen wird. Die Bitte um Wiederherstellung des Tempels in künftiger Zeit ist Teil der täglichen Gebete. In den Strömungen jenseits der Orthodoxie wird sie allerdings nicht mehr gesagt.
Unser Abschnitt vermittelt eine, möglicherweise verstörende Lehre, die jedoch jeden betrifft, auch heute. »Wer von euren Nachkommen sich den Heiligtümern, die die Kinder Israels dem Ewigen weihen, naht, während er unrein ist, der soll vor meinem Angesicht hinweggetilgt werden« (3. Buch Moses 22,3). Mit anderen Worten: Die Priester, die für das gesamte Volk den Dienst im Tempel verrichteten, durften diesen nicht verrichten, solange sie rituell unrein waren.
Doch wer wusste, ob der Priester sich verunreinigt hatte oder nicht? Nur Gott und der Priester konnten dies wissen. Bewegte sich der Priester im öffentlichen Bereich, dann war dieser Status etwas, was wir heute unter dem Begriff »Privatsache« verbuchen würden. Niemand weiß es. Wenn der Priester »sich dem Heiligtum naht«, wie es der Abschnitt formuliert, dann können die Beobachter davon ausgehen, dass er sich im Zustand ritueller Reinheit befindet. Es ist also nicht seine Privatangelegenheit, denn er tut den Dienst zum einen vor Gott und zum anderen für das gesamte Volk.
Das ist die verstörende Botschaft dieser Zeilen: Es gibt im Judentum kein Konzept von »Privatleben«. Nichts, was ein Mensch tut, betrifft nur ihn allein. Jede Lebensäußerung unterliegt der Halacha. Mit dem Schöpfungsbericht zu Beginn der Tora wird klargestellt: Es ist Gottes Schöpfung, in der wir uns bewegen.
Deutlich zu erkennen ist dies bei Mizwot, die das Zusammenleben betreffen, aber auch dort, wo es um die Nahrungsaufnahme oder die Privatangelegenheit par excellence, die Sexualität, geht. Heute gilt verbreitet die Haltung, es wäre besser, wenn sich jeder um seine eigene Sache kümmere. In Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter, wird diese Haltung auch als Charakterzug der Durchschnittsbevölkerung beobachtet: »Wer spricht, was mir gehört, ist mein, und was dir gehört, ist dein, dies ist ein durchschnittlicher Charakter; jedoch meinen manche, dies sei die Einstellung der Menschen von Sedom« (5,13). Sedom – eine Stadt, die für ihre Sündhaftigkeit sprichwörtlich geworden ist.
Ein weiteres Beispiel ist der Nachdruck, mit der unsere Tradition auf dem gemeinsamen Gebet besteht. Man kann für sich selbst beten, aber eigentlich ist es keine Privatangelegenheit. Man muss mindestens zehn volljährige Juden versammelt haben, um wirklich alle Teile des Gebets verrichten zu können.
Niemand weiß, was ich hinter verschlossenen Türen tue, niemand weiß, was dem Priester hinter geschlossenen Türen geschieht. Der Talmud (Berachot 28b) erzählt von Rabbi Jochanan ben Sakkai: Er war krank, und seine Schüler besuchten ihn. Sie baten ihn darum, von ihm gesegnet zu werden. Er sprach daraufhin zu ihnen: »Möge es Sein Wille sein, dass für euch die Furcht vor dem Himmel ebenso groß ist wie die Furcht vor Fleisch und Blut.« Das irritierte seine Schüler: »Nur ebenso groß?« Da antwortete Jochanan ben Sakkai ihnen: »Wenn sie nur ebenso groß wäre! Ihr wisst, dass ein Mensch, wenn er eine Sünde begeht, sagt: ‚Niemand wird mich sehen‘.«
Das Phänomen ist also menschlich und nur allzu bekannt. Genau deshalb legt die Tora so großen Wert darauf zu zeigen, dass es keine Angelegenheiten gibt, die man mit sich selbst ausmachen kann. Schon gar nicht für die Priester.
Und Emor versetzt uns einen weiteren Hieb: Auch Ritus und Ethik des Judentums sind nicht voneinander getrennt. So findet sich inmitten der Verordnungen über die Opfertiere in Vers 22,28 die Aufforderung, verantwortlich mit Tieren umzugehen: »Ein Rind oder Schaf dürft ihr nicht zusammen mit seinen Jungen an einem Tag schlachten.« Wenig später, wenn es um Kalenderdetails geht, werden wir dazu angehalten (23,22), die Ecken des Feldes nicht abzuernten und keine Nachlese zu halten, damit auch die Armen eine Möglichkeit haben etwas aufzusammeln. Für die heutige Zeit würde das etwa bedeuten: Man kann nicht in der Synagoge peinlichst auf die Einhaltung aller möglichen Regelungen pochen und in den eigenen vier Wänden oder im Berufsleben alle anderen Mizwot und die Ethik des Judentums beiseite lassen. Beides gehört zusammen.
Meine Angelegenheiten sind nicht ausschließlich meine Angelegenheiten, und die meiner Mitmenschen sind nicht ausschließlich ihre Angelegenheiten. Die Tora macht das unmissverständlich klar, wenn sie sagt: »Jemand sündigt, wenn er vernimmt, wie man ihn beschwört, er war aber Zeuge, hat es gesehen oder erfahren, sagt aber doch nicht aus, so legt er Schuld auf sich« (5,1). Der Vers spricht davon, dass der Zeuge einer Tat, die Pflicht hat, sie zu bezeugen. Der Zeuge wird mitschuldig. Der Talmud nennt als eine der möglichen Ursachen dafür, dass Jeruschalajim zerstört wurde, die Tatsache, dass die Menschen sich nicht mehr gegenseitig ermahnten und die »Meine-Sache-deine-Sache-Mentalität« gelebt hätten, sagt Rabbi Chanina (Schabbat 199b).
Der Brauch, etwas Geld in die Zedakabüchse zu werfen, bevor man die Schabbatkerzen zündet, erinnert daran. Es gibt keinen Ritus ohne ethische Verpflichtung, und diese haben wir gegenüber Gott, gegenüber uns selbst, wenn wir unbeobachtet sind und gegenüber anderen Menschen. Die Tora fordert das ganz besonders von den Priestern, denn sie sind geistige Leitbilder. Auch heute sollen wir an diejenigen, die in öffentlichen Positionen Verantwortung übernehmen, diese Maßstäbe anlegen. Wir müssen von diesen Menschen erwarten können, dass sie sich tatsächlich in einem Zustand moralischer Reinheit befinden – und dies nicht nur vorgeben.

Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen und Begründer des egalitären Minjans Etz Ami im Ruhrgebiet.

Geiseldeal

Itay Chen ist wieder in Israel

Die Leiche des 19-jährigen, israelisch-amerikanischen Soldaten wurde am Dienstagabend von Terroristen der Hamas übergeben

 05.11.2025

Jerusalem

Nach Eklat in Jerusalem: Westfälische Präses setzt auf Dialog

Projekte, Gedenkorte und viele Gespräche: Die Theologin Ruck-Schröder war mit einer Delegation des NRW-Landtags fünf Tage in Israel und im Westjordanland. Angesichts der Spannungen setzt sie auf dem Weg zur Verständigung auf Begegnungen und Dialog

von Ingo Lehnick  06.11.2025 Aktualisiert

Terror

Hamas übergibt erneut Leichen an Rotes Kreuz

Die Hamas hat dem Roten Kreuz erneut Leichen übergeben. Ob es sich bei den sterblichen Überresten in drei Särgen wirklich um Geiseln handelt, soll nun ein forensisches Institut klären

 02.11.2025

Augsburg

Josef Schuster und Markus Söder bei Jubiläumsfeier von jüdischem Museum

Eines der ältesten jüdischen Museen in Deutschland feiert in diesem Jahr 40-jähriges Bestehen. Das Jüdische Museum Augsburg Schwaben erinnert mit einer Ausstellung an frühere Projekte und künftige Vorhaben

 29.10.2025

Interview

»Wir sind für alle Soldaten da«

Shlomo Afanasev ist Brandenburgs erster orthodoxer Militärrabbiner. Am Dienstag wurde er offiziell ordiniert

von Helmut Kuhn  29.10.2025

Bayern

Charlotte Knobloch kritisiert Preisverleihung an Imam

Die Thomas-Dehler-Stiftung will den Imam Benjamin Idriz auszeichnen. Dagegen regt sich nicht nur Widerstand aus der FDP. Auch die 93-jährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens schaltet sich nun ein

von Michael Thaidigsmann  29.10.2025

Jerusalem

Karin Prien in Yad Vashem: »Jedes Mal für mich erschütternd«

Bei ihrer Israel-Reise erinnert die Bildungsministerin an die Millionen Opfer des Holocaust. Der Moment berührt die CDU-Politikerin auch aus einem persönlichen Grund

von Julia Kilian  28.10.2025

Bildungsministerin

Karin Prien reist nach Israel

Die CDU-Ministerin mit jüdischen Wurzeln will an diesem Sonntag nach Israel aufbrechen. Geplant sind Treffen mit dem israelischen Bildungs- und Außenminister

 26.10.2025

München

Paul Lendvai: »Freiheit ist ein Luxusgut«

Mit 96 Jahren blickt der Holocaust-Überlebende auf ein Jahrhundert zwischen Gewalt und Hoffnung zurück. Besorgt zeigt er sich über die Bequemlichkeit der Gegenwart - denn der Kampf »gegen das Böse und Dumme« höre niemals auf

 21.10.2025