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»Für Depressionen habe ich keine Zeit«

von Annette Kanis

Manche würden häßlich dazu sagen. Wenn die Psychologin Stella Chtcherbatova aus dem Fenster ihres Büros schaut, sieht sie eine mehrspurige Straße und einen Gebrauchtwagenhandel. Dahinter ragt eine Reihe Hochhäuser in den Himmel.
Hier, im Kölner Stadtteil Porz, leben rund tausend Mitglieder der Synagogen-Gemeinde. Weil das Gemeindezentrum auf der anderen Rheinseite liegt, entstand hier vor knapp zwei Jahren eine Begegnungsstätte. Damals war Stella Chtcherbatova gerade neu in den Gemeindevorstand gewählt worden. An der Gründung und am Aufbau des Begegnungszentrums war sie maßgeblich beteiligt.
Heute arbeitet die 41jährige hauptberuflich für die Synagogengemeinde. Sie betreut psychologisch Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien. Aufrecht sitzt die Psychologin hinter ihrem Schreibtisch, spielt mit dem Kugelschreiber, immer wieder. Das schlicht, aber modern eingerichtete Büro teilt sie sich im Wechsel mit einer anderen Mitarbeiterin. Ihre Stelle wurde Anfang des Jahres durch Unterstützung des Kölner Stadt-Anzeigers eingerichtet. Sie ist befristet auf ein Jahr, doch für Stella Chtcherbatova ist es eine Chance, wieder voll in ihren alten Beruf einzusteigen.
»Eigentlich dachte ich, daß ich in Deutschland nie wieder als Psychologin arbeiten könnte«, erinnert sie sich. Als sie hierher kam, hatte sie, wie die meisten Zuwanderer, Probleme mit der Sprache und mit der Anerkennung ihrer Hochschulabschlüsse. Große Hürden seien dies gewesen, sagt sie. Das Gefühl von Resignation und Ausweglosigkeit kenne sie aus eigener Erfahrung. »Doch für Depressionen habe ich nicht viel Zeit.« Sie lacht.
Seit acht Jahren lebt Stella Chtcherbatova mit ihrer Familie in Deutschland. Mit ihrem Ehemann, den damals acht- und fünfjährigen Töchtern Ida und Faina sowie ihren Eltern ließ sie im Herbst 1998 ihr Leben in Pjatigorsk, einer südrussischen Stadt mit 300.000 Einwohnern, hinter sich. Ihre gesamte Verwandtschaft wanderte in den späten 90er Jahren aus, die meisten nach Israel. Weil aber für Stellas Eltern das heiße Klima dort nicht in Frage kam, wurde die zweite Wahl, Deutschland, zur ersten.
Anfangs lebten sie im Wohnheim, dann kamen sie vorübergehend bei Verwandten unter, schließlich, nach vier Monaten, fanden sie eine eigene Wohnung. Und weil Stella ihrer großen Tochter endlich bei den Hausaufgaben helfen und mit den Lehrern sprechen wollte, verschwanden allmählich auch die massiven Sprachprobleme.
»Sitzen und nichts machen, das ist nichts für mich«, sagt sie. Stella Chtcherbatova ist eine Frau, die Probleme kennt – und anpackt. Es scheint zu ihrem Wesen zu gehören, mit unangenehmen Herausforderungen offensiv umzugehen. Vielleicht kommt es daher, daß sie durch ihren Beruf die lähmende Wirkung von Depressionen nur allzugut kennt.
In der alten Heimat hatte Stella Chtcherbatova am Lehrstuhl für praktische Psychologie an einer pädagogischen Hochschule und als Familientherapeutin in einem Kindergarten gearbeitet. Insgesamt ein Fulltime-Job, für den sie im Monat umgerechnet allerdings nur vierzig Euro erhielt. »Das reichte für eine Woche Essen für die Familie«, erinnert sie sich.
Stella Chtcherbatova ist Bergjüdin. Das sind Juden, die nach dem Auszug aus Ägypten im Iran lebten und später in den Nordkaukasus zogen. Zur Geschichte dieser Gruppe zähle, daß sie die jüdischen Traditionen sehr stark bewahrt haben, sagt Stella Chtcherbatova. Ihre Hand greift an die zarte Halskette, rückt die Hamsa-Hand aus Silber zurecht. »Ob Pessach, Rosch Haschana, Jom Kippur – ich kenne aus meiner Kindheit die jüdischen Feste und viele religiöse Riten.« Ihr Bezug zur Religion sei auch dadurch geprägt, daß ihr Großvater Rabbiner war. Das Judentum sei für sie aber immer schon mehr als nur eine Religion gewesen, sagt Stella. Sie fühle sich einer weltweiten Gemeinschaft zugehörig. »Zum Beispiel waren wir immer stolz, wenn ein Jude einen Nobelpreis bekam.« Ihre Heimatstadt Pjatigorsk hat Stella Chtcherbatova als tolerant und multikulturell in Erinnerung. Als Juden hätten sie zwar immer ein gewisses Gefühl des Fremdseins empfunden, doch für die Emigration sei dies nicht ausschlaggebend gewesen.
Die Gründe für die Auswanderung lagen vielmehr an der gesellschaftlichen Situation in Rußland, die sich Ende der 90er Jahre sehr verschärft hatte. Stella erwähnt Unsicherheit, Kriminalität und Gefahren besonders für die Kinder. Nachdem der Sohn eines Verwandten – dieser war ein bekannter Geschäftsmann – zweimal von Kriminellen entführt worden war, stand für Stellas Familie der Entschluß zur Ausreise fest. Sie möchte nicht weiter über diesen Vorfall reden, er belastet sie noch heute. Ihre Stimme kommt ins Stocken, ihr Lachen, das den Redefluß sonst immer wieder unterbricht, bleibt aus. Die Rückblende faßt sie kurz. Das umkämpfte Tschetschenien war von Pjatigorsk nicht weit entfernt, und Terroranschläge belasteten die Gesellschaft. Die Angst um ihre Kinder sei damals immer größer geworden, sagt Stella.
Als sie in Deutschland etwas Fuß gefaßt hatte, konnte sie schließlich an einem Akademikerprogramm der Otto-Benecke-Stiftung teilnehmen. Der Kontakt war zufällig durch die Teilnahme an einem Sprachkurs entstanden. Doch Stella Chtcherbatova glaubt nicht an Zufälle. »Mein Leben wurde durch Gottes Willen geprägt«, sagt sie und blickt lachend nach oben. Es folgten: eine Einladung der Stiftung für ein Fernstudium im sozialen Bereich und ein Platz für ein wissenschaftliches Praktikum an der Universität Köln. Dabei bekam die Psychologin die Möglichkeit für ihre erste eigene Seminarreihe in Deutschland.
Im Jahr 2002 hat Stella Chtcherbatova angefangen, eine Doktorarbeit zu schreiben. Das Thema ist aus der praktischen Arbeit in der Synagogen-Gemeinde entstanden: »Entwicklung und Effektivität des Vertrauenstelefons für russischsprachige jüdische Emigranten«. Vor fünf Jahren hatte Stella Chtcherbatova begonnen, ehrenamtlich für das Vertrauenstelefon in der Gemeinde zu arbeiten. Dieses Projekt habe sie enger an die Gemeinde gebunden, sagt sie. Und gemeinsam mit elf anderen wurde schließlich eine anonyme Beratung für Zuwanderer aufgebaut. Die Psychologin schulte das ehrenamtliche Team in Gesprächsführung und Beratung.
Die psychologischen Angebote kann Stella Chtcherbatova nun durch ihre hauptberufliche Arbeit im Begegnungszentrum Porz ausbauen. Einzelgespräche, Gruppenangebote, Beratung ganzer Familien – die Psychologin sieht bei Zuwanderern großen Handlungsbedarf, besonders bei jüngeren. »Der Migrationsprozeß verschärft Probleme, wie sie in jeder Familie auftauchen können.« Vor allem für Kinder und Jugendliche sei es wichtig, eine angstfreie, gefestigte Identität aufzubauen.«
Das Thema Integration wird Stella Chtcherbatova noch weiter beschäftigen. Bei sich selbst, ihren Töchtern, ihrer Arbeit. Aus eigener Erfahrung weiß sie, daß Migration immer auch Streß bedeutet. »Aber Streß trägt nicht nur negative Bedeutungen«, betont sie und hebt ihre Augenbrauen. Ihr selbst habe bei der Bewältigung dieses Migrationsstresses auch ihre Mit- gliedschaft im Gemeindevorstand geholfen. »Das war für mich eine richtig schwere Zeit, für die ich aber sehr dankbar bin, weil ich gelernt habe, auf deutsch zu reden.«
Kommunikation ist für Stellla Chtcherbatova sehr wichtig – bei ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Gemeindevorstand und natürlich bei ihrer Arbeit als Psychologin. Immer wieder erlebt sie hier, wie Mißerfolge Menschen lähmen können. »Ich sage immer, ein erfolgreicher Mensch ist nicht derjenige, der Erfolg hat, aber derjenige, der bei Mißerfolg weiß, was er machen soll.« Wer nicht wisse, wie er mit Enttäuschungen umgehen soll, bei dem könne es schnell zu Depressionen kommen. »Der Mensch soll die Hoffnung nicht verlieren«, sagt Stella Chtcherbatova. »Um ihm zu helfen, sitze ich hier.«

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