von André Glasmacher
Der graubraune Putz ist schmuddelig und wasserfleckig. Von den Fensterrahmen des Hauses in Jamlitz im Oberspreewald platzt der Lack ab, die Glasscheiben sind ver- dreckt, die Gardinen wirken gelblich. Auf dem rostigen Briefkasten steht kein Name, eine Klingel fehlt. Die Botschaft ist eindeutig: Besucher unerwünscht. Die würden Hans-Jochen Hollack (Name geändert), der hier an der Kreuzung von »Kiefernweg« und »Neue Siedlung« polizeilich gemeldet ist, auch eher selten antreffen. Der 51-Jährige lebt schon seit Jahren in Bayern. Sein Jamlitzer Grundstück dient ihm nur noch zu »Erholungszwecken«. Dazu steht ihm hinter dem Haus ein weitläufiger »Garten« zur Verfügung: Auf einer versteppten Fläche stehen verkrüppelte Obstbäume, einige windschiefe Kiefern halten sich mühsam im märkischen Sand aufrecht. Neben einem verwitterten Holzschuppen stapelt sich Gerümpel.
»Ein Schmuckstück ist das wohl nicht«, sagt Bernd Boschan. Der 50-Jährige trägt eine graue Barbour-Jacke, Schnauzer, grau meliertes Haar und ist um freundliche Korrektheit bemüht. Er steht am anderen Ende des 5.000 Quadratmeter großen Grundstücks. In der Ferne sieht man Hollacks Haus, das sich als dunkler Punkt vom düsteren Himmel abhebt. Irgendwo lärmt eine Kreissäge, Hunde bellen. Ansonsten ist Jamlitz ein friedliches 611-Seelen-Dorf, das menschenleer wirkt.
Bernd Boschan ist Amtsdirektor der Gemeinde Lieberose. Jamlitz fällt in seinen Verwaltungsbereich. Er zeigt jetzt auf das Grundstück. »Das ist Flurstück 411. Dort haben SS-Leute im Februar 1945 vermutlich 765 zuvor ermordete jüdische Häftlinge verscharrt«, erzählt er. Der Verdacht existiert schon seit einigen Jahren, bisher konnte er aber nicht erhärtet werden. Hollack, Besitzer des Flurstücks, verweigert nämlich die Erlaubnis, dort zu graben. »Mal berief er sich darauf, dass durch die Bodenarbeiten der Erholungswert seines Grundstückes gemindert würde. Dann wollte er eine Zusage, dass im Falle eines Totenfundes keine Gedenkstätte eingerichtet wird«, berichtet der Amtsdirektor und schüttelt vage den Kopf. »Die kann ich ihm schon von Amts wegen nicht geben.«
Zunächst machte Boschan aber weitreichende Angebote. »Wenn wir nichts gefunden hätten, hätte ich ihm seinen Garten nach der Grabung genauso wieder hergerichtet wie er war, inklusive Unkraut. Hätten wir die Toten gefunden, dann wäre ihm das Grundstück zu einem großzügigen Preis abgekauft worden, um hier eine würdige Grabstätte anzulegen.« Doch Hollack, der dem Vernehmen nach höchstens einmal im Jahr auf dem verwahrlosten Gelände auftaucht, lehnte alle Angebote ab. Deshalb hat Boschan im April 2007 vor dem Landgericht Guben Klage eingereicht. Er will eine richterliche Verfügung, damit auf dem Gelände endlich Fakten geschaffen werden können. Doch die zuständige Richterin lehnte die Klage ab. Dagegen liegt jetzt eine Beschwerde beim Cottbuser Landgericht vor. Zur Zeit berät die Fünfte Zivilkammer über den Fall. Eine Entscheidung wird aber immer wieder verschoben.
Das Flurstück beschäftigt auch den Zentralrat der Juden in Deutschland. »Es ist sicher, dass es in Jamlitz ein Massengrab gibt. Alle Verdachtsmomente weisen auf Herrn Hollacks Grundstück hin«, sagt Peter Fischer, zuständig für Gedenkstätten und Erinnerung. Er versteht nicht, warum sich Hollack gegen eine Grabung sperrt. »Man kann eigentlich nur Antisemitismus vermuten.«
Ob Hans-Jochen Hollack ein Antisemit ist, darüber möchte Amtsdirektor Boschan nicht spekulieren. »Dazu kenne ich den Mann zu wenig.« Er hat einmal mit Hollack telefoniert und beschreibt ihn als »zurückhaltend«. Nachbarn erzählen, dass Hollack ein seltsamer Mensch sei. Sein Vater soll staatsnah gewesen sein, er baute 1951 auch das Haus. Beim Anlegen der Fundamente könnte Hollack-Senior auf die Überreste der Häftlinge gestoßen sein und das Ganze vertuscht haben. Solche Gerüchte will Boschan nicht kommentieren. Er lächelt lieber unverbindlich und sagt: »Meine Aufgabe ist es schon von Gesetzes wegen, Hinweisen auf eventuelle Gräber nachzugehen.«
Dass sich tatsächlich ein Massengrab auf dem verwahrlosten Grundstück befinden könnte, ist zumindest plausibel. Denn Hollacks Haus, ebenso wie die gesamte Siedlung, stehen auf einem ehemaligen Außenlager des KZ Sachsenhausen. Das Außenlager besaß eine direkte Bahnverbindung nach Auschwitz, wo osteuropäische Juden zur Zwangsarbeit abkommandiert wurden. Zwischen 1943 und 1945 waren in Jamlitz etwa 8.000 Häftlinge interniert. Sie mussten in der Lieberoser Heide einen Truppenübungsplatz für die SS anlegen, der nie fertiggestellt wurde.
Dort, wo heute gepflegte Bungalows und Rosenstöcke stehen, wo sich akkurat geharkte Wege um Gartenzwerge schlängeln, standen einst die Holzbaracken der KZ-Häftlinge. Und dort, wo heute Hollacks märkische Gras-Steppe vor sich hin wu- chert, befanden sich »Schonungsbaracken«, die nichts anderes waren als eine Sammelstation für arbeitsunfähige Häftlinge, die von hier nach Auschwitz zurückgebracht wurden. Im Frühjahr 1945 wurde das Lager überstürzt aufgelöst, die Rote Armee rückte näher. Die marschfähigen Häftlinge, etwa 1.600 Männer, mussten sich auf einen 100 Kilometer langen Todesmarsch in Richtung Sachsenhausen begeben. Etwa 1342 Kranke und Geschwächte blieben im Lager zurück. Unmittelbar nach dem Abmarsch der Häftlingskolonne begann die SS mit ihrer Ermordung. So erklärte 1969 ein Angehöriger des Jamlitzer SS-Wachbataillons vor einem westdeutschen Gericht, als gegen den ehemaligen Lagerkommandanten verhandelt wur- de: »Nachdem die marschfähigen Häftlinge abtransportiert waren, sprach mich der aus Rudolphsgnad stammende Mathias Roth an. Er sagte: Komm’, geh mit! Wir gehen zum Judenerschießen, dafür kriegen wir Schnaps.«
Dieser Satz steht auf einer von 13 Informationstafeln, die seit 2003 am hinteren Ende von Hollacks Grundstück über Außenlager und Massaker aufklären. Bis dato erinnerte in Jamlitz nichts an das ehemalige KZ. Zu DDR-Zeiten wurde die Lager-Geschichte verdrängt. Dabei lagen den so- wjetischen Militärbehörden schon 1945 Hin- weise auf das Verbrechen vor. Für deren Aufklärung hätten die Sowjets aber auf dem Gelände des einstigen KZs graben müssen, das sie bis 1947 als »Speziallager Nr. 6« nutzten. Neben NS-Verbrechern wurden hier auch Unschuldige inhaftiert. Nach dem Ende des Speziallagers wurden die Baracken abgerissen, Vertriebene ließen sich auf dem Areal nieder, errichteten Häuser.
Eine richtige Suche nach den KZ-Opfern beginnt erst im November 1970. Ehemalige Häftlinge des KZ Sachsenhausen fahren nach Jamlitz, um zu erkunden, ob man hier eine Gedenkstätte einrichten könnte. Sie stoßen auf ein Gerücht: In der Gegend, vielleicht sogar auf dem Gelände des Außenlagers, gebe es ein Massengrab. Die Behörden »erinnern« sich jetzt, dass 1959 in einer alten Kiesgrube, die zwei Kilometer von Jamlitz entfernt ist, 12 Skelette frei- gelegt wurden. Dort wird erneut gegraben. Schon bald werden Hunderte von Skeletten gefunden. Insgesamt sind es 577. Einschusslöcher an den Hinterköpfen und Reste gestreifter KZ-Kleidung zeigen, dass es die ermordeten Häftlinge sind. Auch persönliche Gegenstände kommen zutage. So fand man ein Kästchen mit Davidstern und der Inschrift »Emlek«, Ungarisch für Erinnerung. Ein anderes Opfer trug einen kleinen rostzerfressenen Anhänger mit dem Schma Israel. Die Grabungen sind durch zahlreiche Fotos dokumentiert. Wenige kennen sie so gut wie Günter Morsch. Er ist Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und sitzt mit ernstem Gesichtausdruck in seinem Büro in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Ein dicker Ordner mit Kopien der wichtigsten Dokumente zum Jamlitzer Massenmord liegt vor ihm auf dem Tisch. Wenn Morsch heute sagt, dass er den Nazi-Morden noch nie so nahegekommen sei wie durch seine Forschung über das Außenlager, dann liegt das wohl an diesen Bildern. Günter Morsch hat im Auftrag des Brandenburger Innenministeriums ein Gutachten verfasst. Er sollte klären, wie wahrscheinlich die Existenz eines Massengrabes auf Hollacks Grundstück ist. Morsch wertete Akten aus, las Augenzeugenberichte und verglich Zeitzeugenaussagen. »Fakt ist, dass 1342 Häftlinge im Februar 1945 erschossen wurden. Bisher fand man 589 Körper. Also suchen wir noch 765 Tote. Wir haben bereits mehrere Verdachtsorte überprüft. Erfolglos.« Jetzt existiert nur noch eine »Verdachtsfläche« – dort, wo heute Hollacks »Erholungsgebiet« liegt. Dort, wo Amtsdirektor Boschan nicht graben lassen darf.
Morschs Gutachten wird Grundlage der Klage sein, die das Amt Lieberose eingereicht hat. Falls es zu einem Prozess kommen sollte, wird Morsch als Gutachter aussagen. Deshalb darf sich der Gedenkstät- tenleiter auch nicht zu Detailfragen äußern. Aber Morsch kann Auskunft über eine andere Sache geben, die im Herbst 2001 durch die deutsche Presse ging. »Bild« titelte damals: »Leichen von KZ-Häftlingen gefleddert!« Auch in der Wanderausstellung »Das hat’s bei uns nicht gegeben – Antisemitismus in der DDR«, die 2007 durch deutsche Städte zog, wurde über die Stasi und das Zahngold berichtet.
Geht man nach den reinen Fakten, dann ist es eine abstoßende Sache. Nach den Funden in der Kiesgrube ermittelte zeitweise eine Stasi-Abteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Ministerium für Staatssicherheit kam zu dem Ergebnis, dass 18 Angehörige der SS verantwortlich seien. Diese waren persönlich nicht greifbar, also wurde das Verfahren eingestellt. Die Gebeine der Toten wurden verbrannt, die Asche wurde in einer rund fünf Kilometer entfernten Gedenkstätte beigesetzt. Vor der Einäscherung wurde allerdings aus den Kiefern der Toten das Zahngold herausgebrochen. Die Spur des Goldes, etwa ein Kilo, verliert sich in der MfS-Hauptverwaltung »Vermögen«. Günter Morsch, der sich durch umfangreiche Stasi-Akten gearbeitet hat, sagt, dass man den Verbleib des Edelmetalls bisher nicht klären konnte. Ob die Stasi das Gold unterschlagen hat, wisse er nicht. »Sicher ist aber, dass die Verantwortlichen in der DDR sehr unsensibel mit den sterblichen Überresten der KZ-Häftlinge umgegangen sind und alle Regeln der jüdischen Bestattungskultur verletzt haben.«
Die Sache mit dem Zahngold – Heinz Stempel (Name geändert) kann sie nicht mehr hören. Der 70-jährige Rentner trägt eine graue Arbeitsjoppe und hackt in seinem Garten Holz. Sein Haus, ein bonbonfarbener Bungalow, den der gelernte Maurer selbst gebaut hat, steht an der Stelle, an der sich einst die Baracken der SS-Blockführer befanden. Beim Ausschachten sei er auf Koppelschlösser, Munition und einen Bunker gestoßen. »Leichen waren da nicht«, sagt er unwillig. Ei- gentlich spricht Stempel nicht mit der Presse, die sich schon zahlreich durch die Siedlung interviewt hat. »Die stellen sowieso alles so dar, wie sie wollen«, empört er sich. »Neulich war ein Amerikaner da. Der wollte wissen, ob wir alle Antisemiten sind!« Das seien sie aber keineswegs, sagt er dann mit einem versöhnlichen Unterton. »Wir Jamlitzer haben nichts gegen Juden.« Er erinnere sich noch an die Zwangsarbeiter, die er einst als Kind gesehen habe. »Die waren alle in Lumpen, ausgezehrte Gesichter. Meine Großeltern haben gesagt, da geht was ganz Schreckliches vor sich. Das waren ja alles unschuldige Menschen.« Nach dem Krieg habe man in Jamlitz nicht mehr an das KZ erinnert werden wollen. »Die Baracken kamen weg, auf dem Gelände haben sich dann Übersiedler niedergelassen. Die waren froh, dass sie etwas bekommen haben. Hatten ja nüscht mehr.« Heinz Stempel selbst wäre nicht dagegen, »wenn die toten Juden ausgegraben würden. Dann wär’ endlich Ruhe hier.« Wenn er sich da mal nicht täuscht.