zuwanderer

»Es war richtig, hierher zu kommen«

von Thomas Lachenmaier

Eine zierliche junge Frau öffnet die Wohnungstür. Große freundliche Augen schauen den Besucher an. Evgenia Logunova ist 23. Mit ihrem mädchenhaften Charme und ihrer Natürlichkeit wirkt sie fast noch jünger. Doch es zeigt sich schnell, daß sie das Ungefähre der Jugend lange hinter sich gelassen hat.
Im Oktober 2004 kam sie mit ihren Eltern Jelena und Vladimir und den 16jährigen Zwillingsschwestern Marina und Olga nach Deutschland. Ein und ein halbes Jahr des Neuanfangs liegen hinter ihr, eine aufregende Zeit. Die Hürden der Einwanderung sind zahlreich; Integration bedeutet, diese Hürden zu nehmen. Evgenia Logunova läßt keinen Zweifel daran, daß sie erfolgreich sein möchte, daß sie in Deutschland gut ankommen will. Inmitten dieser Herausforderungen hat sich die junge Frau Gelassenheit und Zuversicht bewahrt. Ruhig sitzt sie im Wohnzimmersessel, bedenkt konzentriert die Fragen, streicht sich zur Überbrückung langsam eine Strähne ihres langen, braunen Haares aus der Stirn. Und antwortet erst, wenn sie die Antwort in grammatisch korrektem Deutsch aussprechen kann. Lieber weniger sagen als fehlerhaft formulieren, scheint ihre Devise zu sein. Also fallen ihre Antworten zwar präzise, aber eher knapp aus.
Evgenia hat in Samara, einer Millionenstadt an der Wolga, bereits zehn Semester Flugzeugbau studiert – ein Semester fehlte ihr noch bis zum Examen. Sechs Jahre hatte die Familie auf die Ausreiseerlaubnis nach Deutschland gewartet. Und als der Weg endlich frei war, gab es kein Halten mehr. Auch mit einem Diplom in der Tasche wären die Aussichten auf eine Anstellung in Deutschland gering gewesen, sagt Evgenia. In ihrer alten Heimat ist das Leben hart, und die Aussichten sind ungewiß. Und wenn es eine Stelle gäbe, dann nur für ein sehr geringes Gehalt.
Evgenias Vater Vladimir arbeitete in Samara nicht in seinem eigentlichen Beruf als Ingenieur, sondern als Feuerwehrmann. Die wirtschaftliche Lage war so prekär, daß er neben dieser Tätigkeit noch in zwei oder gar drei weiteren Berufen arbeitete. Evgenias Mutter ist ebenfalls Ingeneurin und arbeitete in einem Energieversorgungsunternehmen. Es war vor allem die Sorge um die Zukunft der Kinder, die die Familie zur Auswanderung bewog. Aber auch das allgemeine Klima der jüdischen Minderheit gegenüber mag eine Rolle gespielt haben. Ihrem Vorgesetzten gegenüber, erzählt die Mutter, hätte sie um keinen Preis die jüdische Identität der Familie erwähnt.
Der Abschied von der alten Heimat, von Verwandten und Freunden, war dennoch sehr schwer, erinnert sich Evgenia: »Als der Zug den Bahnhof von Samara in Richtung Moskau verließ, «mußten wir alle ein bißchen weinen.» Am nächsten Tag ging die Reise dann von Moskau nach Stuttgart und schließlich nach Karlsruhe. «Von dort wurde unsere Gruppe auf verschiedene Städte Baden-Württembergs verteilt. Wir kamen nach Rottweil am Neckar. Die Ankunft war ein bißchen wie ein Schock», berichtet Evgenia «Wir wußten nicht, was uns erwartet und hatten Angst um unsere Zukunft.»
Umso größer war die Freude über die Hilfe, die sie von Anfang an erfuhren. Mit der sie so nicht gerechnet hatten. «Wir kamen an einem Mittwoch in Rottweil an, und am Donnerstag kam Tatjana Malafy, um uns zu begrüßen.» Tatjana Malafy gehört zur Leitung der Israelitischen Kultusgemeinde Rottweil/ Villingen-Schwenningen und hat mit ihrer Hilfe schon vielen Einwanderern den Anfang erleichtert. Bereits am darauf folgenden Schabbat besuchte die Familie zum ersten Mal den Gottesdienst in der jüdischen Gemeinde. «Wir haben dort schnell viele Leute kennengelernt, Freunde gefunden und Rat bekommen.»
Besonders beeindruckt war die Familie von der Hilfe durch nichtjüdische Rottweiler Bürger, die sich für die Zuwanderer einsetzen. So boten pensionierte Lehrer Sprachunterricht an. Edgar Bergener, einer von ihnen, besuchte die Familie drei Mal in der Woche, um ihnen beim Einleben in der neuen Umgebung zu helfen und mit ihnen Deutsch zu lernen. Wie zum Beweis, daß die Hilfe dieses Mannes erfolgreich war, formuliert Evgenias Mutter ihren Dank in einem perfekten, fast poetischen Satz: «Herr Bergener ist ein sehr herzlicher Mann, er nimmt unsere Probleme sehr auf sein Herz.»
Für Evgenia hat die perfekte Beherrschung der deutschen Sprache oberste Priorität. Derzeit besucht sie einen viermonatigen Intensivkurs in Mannheim, die Kosten für die Unterbringung und die Schule übernimmt die Otto-Benecke-Stiftung. Für Evgenia Logunova ist es mehr, als nur die Sprache zu erlernen. Sie rückt auf die Vorderkante des Sessels und lächelt charmant. «Ich habe dort Freundschaften geschlossen und fühle mich da sehr wohl.» Stück für Stück entsteht um Evgenia und ihre Familie ein Netz menschlicher Beziehungen und Freundschaften und damit auch ein emotionales Fundament, ohne das ein Neubeginn schwerlich gelingen kann.
Evgenias Hauptwunsch ist, daß ihr bisheriges Studium in Deutschland anerkannt wird. Derzeit liegen die Dokumente zur Beurteilung in München, wo es mit Luft- und Raumfahrttechnik einen ihrer Ausbildung vergleichbaren Studiengang gibt. Noch weiß sie nicht, ob es gelingen wird, ob sie sich einer Aufnahmeprüfung unterziehen muß, ob sie bürokratische Hürden zu meistern hat. Sie spricht so zuversichtlich von den Chancen, die Deutschland bietet. Ihr Optimismus wirkt fast ansteckend. In einem Deutschland der Verzagtheit spricht sie von den vielen Möglichkeiten, die es hier gibt. Ihre Vergleichsgröße ist Rußland. Da fällt das Urteil besser aus.
Welche Rolle spielte das Judentum im Leben der Familie Logunova in Rußland? Ungefähr dieselbe wie im öffentlichen Leben in Samara: eine sehr geringe. «Wir hatten keine Kenntnisse der jüdischen Religion, nur die Großmutter wußte noch ein bißchen davon.»
Obwohl die jüdische Minderheit in Samara zahlenmäßig nicht gering war, gab es keine Synagoge. «Bei uns gab es eine andere Religion», sagt Evgenia und übt sich in einem sarkastischen Lachen. «Den Kommunismus.» Nach dem Zerfall der Sowjetunion änderte sich die Situation. Allerdings nur langsam. Ein Rabbiner kümmerte sich um die Juden in der Stadt, es gab zahlreiche Aktivitäten, Gottesdienste. «In unserem letzten Jahr dort haben wir begonnen, in die Synagoge zu gehen.» Zuletzt gingen ihre Schwestern sogar auf eine jüdische Schule. Aber die Zeiten waren auch dann noch nicht so, daß Evgenias Mutter ihrem Vorgesetzten erzählt hätte, daß sie Jüdin ist. Im Sommer 2002 hatte Evgenia die Möglichkeit, an einer Reise nach Israel teilzunehmen. Das Land hat ihr gut gefallen, es sei «ein sehr schönes Land». Kann sie sich vorstellen, da zu leben? «Darüber», sagt sie nach einem kurzen Nachdenken, «habe ich noch nicht nachgedacht». Aber dann sagt sie, jetzt mit einem Lachen im Gesicht: «Einmal auswandern reicht!»
Bei den Logunovas läßt sich beobachten, was für viele Einwandererfamilien typisch ist: Das Wissen über jüdische Tradition wird von den Kindern in die Familien getragen. Jelena, die Mutter, erzählt: «Ich habe von meinen Töchtern gelernt und jetzt auch hier in der Gemeinde.» Für sie spiele die Religion keine große Rolle. Und doch, erzählt sie, haben sie Chanukka gefeiert in der Gemeinde.
Evgenia berichtet, daß sie gelegentlich in der Tora liest, «aber nur in der russischen Übersetzung». Sie interessiere sich sehr für die jüdischen Traditionen, und wenn sie etwas darüber findet, dann liest sie es. «Das ist sehr wichtig für mich.» Wenn sie am Wochenende in Rottweil ist, dann geht sie auch in die Synagoge. Die Gemeinde ist für sie der Ort, wo sie Kontakte knüpfen kann. So hatten die Gemeinden in Karlsruhe und Heidelberg vor kurzem die Jugendlichen anderer Gemeinden eingeladen. Von diesen Begegnungen erzählt Evgenia mit leuchtenden Augen: «Wir hatten da viel Spaß, und ich habe viele Freunde gefunden.» Auf einmal ist sie nicht mehr die junge Frau in ungewisser Lage, die sich um ihre berufliche Situation Gedanken macht, sondern sie ist einfach die junge Studentin, die sich am Leben freut.
Wahrscheinlich sind es auch solche Erlebnisse, die ihr Resümée über die Entscheidung der Familie, nach Deutschland auszuwandern, so eindeutig ausfallen läßt. Sie rückt wieder auf die Sesselkante vor und sagt: «Ich denke, es war richtig für unsere Familie, nach Deutschland zu kommen. Wir schauen mit Optimismus in die Zukunft.»

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