Costa Rica

Erst Tora, dann Tore

von Hans-Ulrich Dillmann

»Vor dem Spiel steht die religiöse Pflicht«, sagt Lilliana Mainemer. »Es wäre unser Traum gewesen, das Eröffnungsspiel der Fußball-WM zwischen Deutschland und unserer Nationalelf Costa Rica live im Münchener Stadion mitzuerleben«, aber Sohn Iacov wird am Schabbat nach dem Spiel zum ersten Mal in San José zur Tora aufgerufen – er feiert seine Barmizwa. Und in entschuldigendem Tonfall fügt die 37jährige Mutter hinzu: »Natürlich wünschen wir uns, daß unsere Mannschaft gewinnt.« Ein Barmizwa-Traum für einen Fußballfan: Der deutsche Sturm schwächelt, die Abwehr nicht ausgeschlafen, Lehmann auf dem falschen Bein. »Gooooal!« Sieg für Costa Rica.
Wenigstens können sie das Spiel noch vor Schabbatbeginn in ihrer Wohnung in San José sehen. Sieben Stunden Zeitunterschied helfen. Den Fanschal um den Hals gelegt, das Nationaltrikot angezogen, Hüte und Kappen in den Nationalfarben auf dem Kopf wird Familie Mainemer mit ein paar Freunden die Nationalelf Costa Ricas vor dem Fernseher sitzend anfeuern. Danach geht es zum Schabbatgottesdienst. »Zur Barmizwa schenken wir Iacov die Reise zu den anderen WM-Spielen Costa Ricas«, sagt die Unternehmensberaterin.
Lilliana wurde wie ihre Eltern in Costa Rica geboren, »aber meine Großeltern sind aus Polen vor der Schoa geflohen«. Auch die Großeltern ihres Mannes Mario, der in der Textilindustrie arbeitet, kamen aus dem Land, dessen Fußballteam im dritten Vorrundenspiel Costa Ricas Gruppengegner sein wird. Die Mehrzahl der Juden des Landes haben aus Polen eingereiste Vorfahren.
Die jüdische Gemeinschaft in Costa Rica schaut auf eine verhältnismäßig junge Geschichte zurück. Erst Mitte der zwanziger Jahre kamen die ersten Juden in das Land, überwiegend aus Polen. »Das Centro Israelita Sionista de Costa Rica wurde 1937 gegründet«, erzählt Guita Grynspan, die Geschäftsführerin des Israelisch-zionistischen Zentrums von Costa Rica. »Nach dem Holocaust kamen wieder Überlebende aus Polen, später dann zogen auch Sefarden aus Südamerika hierher.«
Heute zählt die Gemeinde rund 2.500 Mitglieder, das Land selbst hat 4,2 Millionen Einwohner. »Es gibt viele Jugendliche«, sagt Doña Guita, wie sie gerufen wird. Vor 20 Jahren bildete sich dann auch eine Reformgemeinde. Die Congregación Bnei Israel unterhält eine Synagoge und eine Sonntagsschule, wo die Kinder der Beter religiös unterrichtet werden. Inzwischen gibt es auch eine Gruppe von Chabad Lubawitsch.
Seit zwei Jahren beherbergt das weitläufige Gelände das neugebaute Gemeindezentrum mit der Synagoge. Hier gibt es auch die Verwaltungsbüros, das Rabbinat, ein Restaurant und Veranstaltungsräume. Zweimal täglich bietet die orthodoxe jüdische Gemeinde Gottesdienst an. Die 1931 gegründete Chewra Kaddischa kümmert sich um die Beisetzungen auf dem gemeindeeigenen Friedhof. Ein Museum dokumentiert die jüdischen Facetten Costa Ricas. Außerdem gibt es eine jüdische Ganz- tagsschule. Und die Sportvereinigung der Gemeinde. »Deportivo Israelita« wurde 1964 gegründet. Knapp 500 Familien sind Mitglied und können die Sportanlagen nutzen: Tennisplätze, Strandvolleyballanlage, mehrere Basketballfelder, Schwimmbecken und die Fußballrasenplätze.
»Costa Rica ist ein fußballbegeistertes Land, und als wir uns qualifiziert hatten, gab es ein großes Fest«, sagt Lilliana Mainemer. »Wir waren schon bei der letzten WM in Japan, und die Qualifikationsspiele gegen Trinidad und Tobago, Honduras und die USA haben wir im Stadium verfolgt.« Der älteste Sohn Michael ist zwar für ein Jahr in Israel, aber der 17jährige läßt es sich nicht nehmen, den Aufenthalt der anderen Familienmitglieder in Deutschland zu einem Kurztrip und zum Stadionbesuch mit den Eltern zu nutzen. Michael spielte in der Jugendmannschaft von »Deportivo Israelita«. Iacov trainiert dort, spielt aber auch in der Juniorenliga bei »Deportivo Saprissa«. »Die Profis haben dieses Jahr die Landesmeisterschaft gewonnen«, berichtet die stolze Mutter.
»In unserer Gemeinde gibt es einige, die nach Deutschland fliegen. Nach dem Aufruf Iacovs zur Tora werden auch wir die Koffer packen«, sagt Lilliana Mainemer. Die Platzkarten sind für den 15. Juni in der Hamburger Arena gegen Ecuador reserviert. Ein paar Hundert Costaricaner werden dort sitzen, noch viel mehr vor den Bildschirmen 14 Flugstunden entfernt auf dem zentralamerikanischen Kontinent.
Vielleicht wird Iacov Mainemer in eine paar Jahren der erste jüdische Spieler in der ersten Liga Costa Ricas sein – wie Pablo Sorín zum Beispiel, der versuchen wird, Argentinien für den Weltcup ins Finale zu schießen. Für seine Mutter Lilliana ist das »un sueño«, ein Traum.

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