Elul-Therapie

Einen Monat auf die Couch

von Rabbi Berel Wein

In der Gesellschaft, in der wir leben, sind Therapeuten gefragte Leute. Seelische und emotionale Probleme, körperliche Be-
schwerden und familiäre Krisen gehören zu den Aufgaben eines Therapeuten. Aber so wie in dem alten Witz – Wie viele Psychologen sind nötig, um eine Glühbirne auszutauschen? Nur einer, aber die Glühbirne muss ausgetauscht werden wollen – können Therapeuten nur solchen Menschen helfen, die sich helfen lassen wollen. Und da die meisten Probleme dieser Art – seelische, körperliche, emotionale und familiäre – durch den Mangel an Disziplin und Ausdauer vonseiten des Betroffenen selbst verursacht wurden, steht der Therapeut vor einer äußerst schwierigen Aufgabe, will er die Situation verbessern.
Aus Diskussionen mit befreundeten Therapeuten weiß ich, dass die Weigerung, sich mit der Realität und den Problemen ernsthaft auseinanderzusetzen, das größte Hindernis darstellt, wenn es darum geht, jemandem zu helfen und ihn zu behandeln. Bis zu einem gewissen Ausmaß leben wir bei der Einschätzung unseres Selbst und unserer Umgebung alle in einer Traumwelt. Wir ersetzen das, was wir wirklich sind, mit dem, was wir gern wären, weshalb wir im Unbewussten ständig frustriert und enttäuscht sind, weil zwischen unseren Fantasien und unserer Lebenswirklichkeit ein Widerspruch klafft.
Unsere politischen Führer sind Experten darin, Wirklichkeit und Fantasie zu verwechseln, und schlagen gern Lösungen vor, die sich im Licht der Realität als unausführbar erweisen. Auch viele unserer geistigen Führer präsentieren uns Lösungen unserer spirituellen Schwierigkeiten, ohne die Realität unserer Probleme und die Unzulänglichkeiten ihrer Lösungsvorschläge zu berücksichtigen. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapie heißt schonungslose Ehrlichkeit und strenge Selbsteinschätzung. So also treten wir in den Monat Elul ein.
Für gläubige Juden ist der Monat Elul eine Zeit der Vorbereitung auf die Tage des Urteils von Rosch Haschana und Jom Kippur. Aber Elul ist mehr als das. Seine tiefere Bedeutung liegt darin, uns die Fähigkeit zu schenken, der Wirklichkeit ins Auge zu blicken – uns selbst ungeschminkt und mit all unseren Fehlern zu sehen. Es geht im Elul nicht in erster Linie darum, uns auf unsere Hoffnungen und Zukunftspläne zu konzentrieren, sein Zweck ist es vielmehr, uns unsere vergangenen Fehler und derzeitigen Missverständnisse vorzuführen.
Jetzt ist die Zeit, uns selbst und nicht die anderen zu sehen, und den Lärm und die Zerstreuungen und Torheiten des täglichen Lebens so weit wie möglich zu ignorieren. Therapie bedarf der Fähigkeit, uns selbst in neuem Licht zu betrachten. Elul ist daher ein wunderbarer Therapeut, denn er versetzt uns in die richtige Umgebung, in der wir uns selbst erkennen können.
Aber, wie bei allen Therapien, kann er erst helfen, wenn wir bereit sind, uns selbst in diesem neuen und beunruhigenden Licht zu betrachten. In der jüdischen Geschichte gab es Menschen, die für den gesamten Elul ihr Alltagsleben gewissermaßen dichtmachten, um die für eine erfolgreiche Therapie nötigen Bedingungen von Selbsthilfe und Selbsterkenntnis zu schaffen. In unserer viel komplizierteren Welt, wo wir gezwungenermaßen und oft unfreiwillig immerzu mit Menschen Kontakt haben, mag es viel schwieriger sein, eine solche konsequente Ablösung vom Alltag zu vollziehen. Nichtsdestoweniger wissen wir alle, dass es von enormem therapeutischem Vorteil sein kann, wenn wir uns Zeit für uns nehmen und unser wahres Selbst, unser Verhalten, unsere Sprache, unsere Einstellungen und Beziehungen mit anderen zu prüfen, statt uns bloß träge treiben zu lassen.
Anders als andere Therapien kostet die Elul-Therapie nichts. Aber sie verlangt Engagement und Hingabe. Unsere Aufmerksamkeitsspanne für irgendein Thema ist sehr kurz. Wir leben in einer Umge-
bung kurzer, knalliger Statements, was auch auf unser Urteil über uns selbst und andere abfärbt. Ein polnischer Adliger fragte den großen Rebbe von Kotsk einmal: »Was finden die Menschen an Ihnen so großartig? Was ist Ihre wichtigste Eigenschaft?« Der Rebbe von Kotsk antwortete: »Ich habe gelernt, mich für ein paar Stunden hintereinander und ohne Pause vollständig und ausschließlich auf ein Thema zu konzentrieren.«
In der heutigen Gesellschaft scheint es jenseits des Vorstellungsvermögens zu liegen, dass ein Mensch sich einen ganzen Monat lang darauf konzentriert, sich selbst zu analysieren. Doch jeden Tag einige Augenblicke damit zu verbringen kann nicht so schwierig sein und ist ein vernünftiges Ziel. Damit eine Therapie tatsächlich hilft, muss sie fortlaufend gestärkt und gefestigt werden.
Im Elul zählt jeder Tag, um unser Be-
streben, bessere Menschen zu werden und ein sinnvolleres Leben zu leben, zu kräftigen. Das Elul-Therapieprogramm hat gerade begonnen, und wir sollen uns alle einschreiben – ein Schritt, für den uns in den kommenden Lebensjahren ein wunderbarer Lohn winkt.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von www.rabbiwein.com

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