Boris Saidman

Ein Rest Fremdheit

von Sigrid Brinkmann

Wer will mit 40 schon behandelt werden, als wäre er ein halb totes Pferd, das die Peitsche braucht, um auf der Zielgeraden zu bleiben? Boris Saidman hat 2005 aufgehört, für die unersättlich fordernde Werbebranche ins Rennen zu gehen, in der er viele Jahre als Art Director tätig war. Er hat Tel Aviv verlassen und ist nach Galiläa gezogen. In einem kleinen Dorf zwischen Akko und dem Kinneret bestimmt er nun selbst Tempo und Ziel seiner Arbeit. Endlich nicht mehr verkaufen, sondern einen wahrhaftigen Ton suchen, den Schrecken des leeren Blattes aushalten, Erfahrungen literarisch verdichten.
Die »Blase« Tel Aviv hat Saidman auch verlassen, weil er in einer Gegend leben wollte, in der er jüdische ebenso wie arabische Nachbarn hat. Tel Aviv empfindet er in dieser Hinsicht als »sterile Zone«. Er verlässt seine ländliche Nische nur, um seine Kinder, die in Tel Aviv zur Schule gehen, zu besuchen oder in Haifa und Akko Studenten im Fach Visuelle Kommunikation zu unterrichten. Von der schnelllebigen israelischen Wirklichkeit, in der für sein Empfinden Dinge nicht altern können und zu wenig überdauert, hat er sich definitiv abgewandt. Er weiß sich in der Ablehnung dieses »Plastik-Lebens« nicht allein: Die Schriftsteller Gabriela Avigur-Rotem und Amir Gutfreund wohnen unweit in benachbarten Dörfern.
Ein Eremitendasein führt Saidman dennoch nicht. Das lässt der Erfolg nicht zu. Mit seinem Debütroman Hemingway und die toten Vögel schaffte er es 2006 sofort auf die israelische Bestsellerliste. Die Übersetzungsrechte waren schnell an europäische Verlage verkauft. Auch in Deutschland ist das Buch erschienen. Plötzlich mussten Buchmessen, Presseinterviews und Tagungen in den Kalender eingeflochten werden.
Saidman erzählt in seinem Erstling die Geschichte einer Trennung, die er als Kind selbst durchlitt. Er war zwölf, als er »Mütterchen Russland« 1975 mit seinen Eltern für immer verließ. Der Abschied aus der Sowjetunion, sagt er, glich »einem Begräbnis«. Wie ein Betrüger fühlte er sich damals, dabei war er der Betrogene: das vom Nationalitätenparagrafen stigmatisierte jüdische Kind, das den antisemitischen Sticheleien der Nachbarskinder und Junggenossen standhalten musste, der Jude, der seine eigene Geschichte erst spät erfuhr. Die Eltern hatten über das »Abhandenkommen« von Angehörigen während des Zweiten Weltkriegs beharrlich geschwiegen. Von dem berüchtigten Pogrom 1903 in seiner moldauischen Geburtsstadt Kischinew, heute Chisinau, erfuhr der junge Saidman erst als Schüler in Israel.
Exilanten erinnern sich an die die letzten Bilder der Heimat überscharf, haben Psychologen festgestellt: Das Trauma der erzwungenen Trennung brennt sich wie eine Fotografie in ihr Gedächtnis ein. Boris Saidman hat ein bildmächtiges, melancholisches und, wie er sagt, »sehr russisches« Buch schreiben müssen, bevor er es im Winter 2007 wagen konnte, erstmals nach Chisinau zurückzukehren und seine inneren Bilder mit der postsowjetischen Wirklichkeit abzugleichen. Unablässig rieselte Schnee bei zehn Grad minus, erinnert er sich. Gegen die Kälte schirmte er sich ab mit einem dicken Mantel. Die emotionale Nostalgieattacke brach an einer hohen Mauer, die er in seinem Inneren aufgeschichtet hatte. Am Ende seiner »Sentimental Journey« wusste er: Kulturell, politisch, selbst körperlich waren alle Taue gekappt. Boris Saidman kehrte heim – nach Israel.
Manche Neueinwanderer aus der Sowjetunion haben mit der Alija auch ihre Namen hebraisiert. Boris Saidman nicht. Als Baruch, Dov oder Zeev hätte er das Gefühl gehabt, seine Wurzeln unnötig zu verleugnen, sagt er. Aber mit dem »Geruchssinn eines ausgehungerten sibirischen Wolfes« erkannte er immer die anderen, die wie er von »dort« gekommen waren. Beim »Such-den-Russen«-Spiel nach Schulschluss konnte ihm keiner das Wasser reichen.
Dabei ist Saidman eigentlich das Musterbeispiel einer gelungenen Integration. Schon ein Jahr nach seiner Ankunft sprach er fließend Iwrit. Das »hebrussische« Kauderwelsch seiner ehemaligen Landsleute kommentiert er mit gehörigem Spott. Er schüttelt den Kopf über die Einwanderer, die ihre Kinder auf russische Schulen schicken, in abgeschotteten Wohnvierteln leben, in Läden mit kyrillischen Buchstaben einkaufen und russische Lebensmittel Humus und Salat vorziehen. »Ghettodenken«, seufzt Saidman.
Liegt es auch daran, dass so wenige Neueinwanderer ihre Erfahrungen literarisch verarbeitet haben? Über eine Million Israelis kommt aus den GUS-Staaten, doch nicht einmal eine Handvoll wagt es, zu publizieren. Neben Saidman hat sich noch Alona Kimhi, die mit neun Jahren aus der Ukraine einwanderte, als erfolgreiche Autorin etablieren können. »Ehrfurcht« vor der Sprache nennt Saidman als Grund für die Zurückhaltung seiner Landsleute. Literatur zu schaffen, sei für russische Muttersprachler so, als berührte man den Himmel.
Paradoxerweise schreibt Saidman, der als Jugendlicher mit Verve alles Russische abgestreift hatte, um sich möglichst schnell zu assimilieren, heute eine Prosa, die eigenartig fremd klingt, weil er seinem Hebräisch eine russische Syntax zugrunde legt. Als wolle er, spät und unübersehbar, einen Rest Fremdheit behaupten.

boris saidman: hemingway und die toten vögel
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Berlin Verlag 2008, 224 S., 17,90 €

München

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