ideengeschichte

Ein liberaler Radikaler

Wenn es eine direkte Verbindung gibt zwischen der deutsch-jüdischen intellektuellen Emigration und der amerikanischen Politik der Bush-Regierung, so trägt sie den Namen Irving Kristol. Am Übergang der 60er- zu den 70er-Jahren trat Kristol seine Reise in die Welt der politischen Beratung und Thinktanks an, wurde »Gründervater« des Neokonservatismus und Stichwortgeber Reagans. Er führte die neokonservative, ehemals liberale Intelligenz dauerhaft ins Lager der Republikaner – wofür ihm noch George W. Bush mit Auszeichnungen und lobenden Worten dankte. Mit seiner Familie galt Kristol lange als das Zentrum des neokonservativen Imperiums. Seine Frau ist die Historikerin Gertrude Himmelfarb, sein Sohn Bill Kristol ist nicht nur Herausgeber des nach wie vor ungebrochen neokonservativen Weekly Standard, sondern schaffte es auch, im Zuge des »Krieges gegen den Terror« als zeitweiliger Chefideologe Zugang zu Bush und vor allem Dick Cheney zu gewinnen.

schick im kalten krieg Aber man würde einem Leben voller Widersprüche unrecht tun, behielte man Irving Kristol nur als graue Eminenz der Neocons in Erinnerung. In Kristols Biografie spiegelt sich die Dramatik des Kalten Krieges. Er legte einen weiten Weg zurück, doch was blieb, war eine Vorliebe für einen intellektuellen »radical chic«, dem er stets eine Portion Skepsis beimischte. Niemals glaubte er so glühend wie die jüngeren, intellektuell anspruchsloseren Neocons, die ihm nachfolgten, an Amerikas globale Mission und die Segnungen des Kapitalismus.
In seiner Autobiografie berichtet Kristol von einem intellektuellen Erweckungserlebnis, das er der deutsch-jüdischen Emigration verdankte: Die Lektüre des aus Deutschland stammenden Philosophen Leo Strauss soll ihm den Weg zu einem intelligenten, modernen, zugleich jüdischen Konservatismus gewiesen haben. Zuvor hatte Kristol schon mit zahlreichen Formen des politisch-intellektuellen Engagements experimentiert. Als Kind ukrainischer Einwanderer 1920 in Brooklyn gebo- ren, schloss er sich am City College – einer »Brutstätte des Radikalismus«, wie es hieß – den Trotzkisten an, die damals eine enorme Anziehungskraft auf die junge New Yorker Intelligenz ausübten. Wie so viele »New York Intellectuals« legte auch Kristol die Strecke vom Trotzkismus zum Antikommunismus in wenigen Jahren zurück. Als er aus dem Krieg zurückkehrte, wurde er Chefredakteur der Zeitschrift Commentary. Anfang der 50er-Jahre übernahm er gemeinsam mit Stephen Spender die britische Zeitschrift Encounter. Kristol verkörperte nun den »cold war liberalism«. Liberal war cool – man muss sich nur Aufnahmen aus dieser Zeit anschauen: dunkle Anzüge, Martinis, Zigaretten, Jazz. Die antikommunistischen Liberalen prägten die Ideen der Zeit: Ende der Ideologie, »affluent society«, »Take-off«, Modernisierung, »New Frontier« – der ganze Kennedy-Sound avant la lettre. Kristol war ein begnadeter Blattmacher, ebenso wie sein späterer neokonservativer Mitstreiter Norman Podhoretz, der nach Kristol die Geschicke von Commentary lenkte. Sie boten die gesamte Geisteswelt des Westens auf – von links bis rechts, Atomkriegsgegner und Antikommunisten, selbst Susan Sontag oder Herbert Marcuse schrie- ben für sie. Mit späteren Frontstellungen lässt sich die politisch-intellektuelle Welt der 50er- und frühen 60er-Jahre nicht begreifen. Damals redeten noch alle miteinander – und Kristol war einer der Impresarios, die dieses Gespräch moderierten.
die cia-connection Dass die Offenheit der westlichen Diskussion auch die Überlegenheit gegenüber dem Osten beweisen sollte, wurde dadurch unterstrichen, dass Encounter Teil einer verdeckt von der CIA finanzierten Kulturoffensive war. Doch schon 1952 war Kristol bereit, die Bürgerrechte von Minderheiten auf dem Altar der nationalen Sicherheit zu opfern. Er sprach von einem monolithischen Kommunismus, der jeden Anhänger fernsteuerte – eine Vor- stellung, die damals in Geheimdienst- und Regierungskreisen längst ausgedient hatte. Es waren ähnliche Überzeichnungen, die Kristols Weg von den Demokraten zu den Republikanern ebneten, den er 1972 mit seinem Eintreten für Richard Nixon abschloss. Kristols berühmtestem Bonmot, ein Neokonservativer sei ein Liberaler, den die Realität überfallen habe, liegen drei Schockerlebnisse zugrunde, die Kristols »conservative turn« beschleunigten. Die liberale Coolness hatte ausgedient: Die Rassenunruhen der 60er-Jahre ließen den Zusammenbruch der »Great Society« befürchten – Kristol wurde zum Gegner von Staatsintervention und »affirmative action«. Neue Linke und Gegenkultur stellten die kulturelle Hegemonie der weißen alten Männer infrage – anders als die Linksliberalen wollte Kristol diese Entwicklung bekämpfen. Und schließlich forderte eine immer größere Friedensbewegung, den Krieg in Vietnam zu beenden – für Kristol ein Angriff auf den Antikommunismus. 1968 unterstützte er noch den liberalen Antikommunisten Hubert Humphrey gegen Nixon. Erst als die Demokraten mit George McGovern einen Kandidaten aufstellten, der Kristols drei Bedrohungsszenarien verkörperte, hielt ihn nichts mehr bei den Demokraten. Und damit leitete er eine politisch-intellektuelle Entwicklung ein, die erst mit der Wahl Obamas beendet zu sein scheint.
Irving Kristol starb am vergangenen Freitag im Alter von 89 Jahren an Lungenkrebs.

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