Umkehr

Die Gnade der zweiten Chance

von Marcus Schroll

Als Pädagoge kommt mir mitunter auch die Aufgabe zu, als Mediator tätig zu werden, Wege für einen guten Ausgang von Konfliktsituationen für alle Beteiligten anzubieten. Die Toralesung des Schabbats Wajigasch bietet hierfür eine ausgezeichnete Orientierungshilfe, lernen wir doch in ihr Wesentliches über die Aufarbeitung von Fehlverhalten und die Schritte zur Versöhnung miteinander, die im Höhepunkt der dramatischen Ereignisse um Josef und seine Brüder Gestalt annehmen.
Ausgerechnet Benjamin wird von Josef beschuldigt, seinen Silberbecher gestohlen zu haben, weshalb er auf Josefs Befehl hin als Knecht in Ägypten bleiben muss. In seiner nun folgenden, herzergreifenden Rede bittet Jehuda darum, den Jüngsten nicht zurückzubehalten und bietet sich an Benjamins Stelle als Sklave an. Josef gibt sich in dieser spannungsgeladenen Situation seinen Brüdern zu erkennen und versöhnt sich mit ihnen, die seit Jahren aufgrund ihrer Tat, Josef verkauft zu haben, von ihrem schlechten Gewissen gequält werden.
Kein Mensch würde es Josef in diesem Augenblick verdenken, wenn er die Worte Jehudas abgeschmettert hätte. Doch kommt es anders als erwartet, denn Josef spricht die bedeutsamen Worte: »Und nun, betrübt euch nicht, und lasst es in euren Augen nichts Bekümmerndes sein, dass ihr mich hierher verkauft habt. Denn zur Lebenserhaltung hat G’tt mich vor euch geschickt.«
Verschiedene Kommentatoren weisen auf die tiefe Bedeutung dieses Satzes hin, in dem das Wort »nun« das Schlüsselwort bilde. Hierdurch komme zum Ausdruck, dass es den Brüdern nach langer Zeit nunmehr möglich sei, in der Gegenwart zu leben. Dies gelte besonders für Jehuda, der Josef zur Hilfe kommen wollte, als ihn die Brüder in die Grube warfen und bereit waren, ihn zu töten. Doch Jehuda war zu schwach und unsicher, es fehlte ihm an Mut, sich eindeutig den Brüdern entgegenzustellen.
Den diese Interpretation vertretenden Kommentatoren liegt der dauernd mit seinem Gewissen ringende Jehuda am Herzen, der zunächst nicht aus seiner Schuld herausfindet, später aber, als Josef das Wort »nun« ausspricht, aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt wird. Josef und Jehuda sind sich bewusst, dass die Vergangenheit keine Veränderung zulässt, sich in der Gegenwart aber neue, ungeahnte Chancen bieten.
Diesen Vorgang umschreiben wir in unserer Tradition mit dem Begriff Teschuwa, Umkehr. Das Ziel der Umkehr ist, dass der Mensch wieder ins Gleichgewicht kommen soll – mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und mit seinem Schöpfer. Kurzum: Das Ziel ist Lebenserhaltung.
Josef hatte dieses Ziel im Sinn, als er den oben genannten, bedeutungsvollen Satz zu seinen Brüdern sprach. Genau genommen entfaltet sich die Umkehr in fünf Gedankenstufen. Hinsichtlich unserer Beziehung zum Schöpfer begegnen sie uns in der Wochentagsamida. Und was den Umgang mit unseren Mitmenschen betrifft, so zeigen uns die Söhne Jakows in ihrem Verhalten gegenüber ihrem Bruder Josef diese fünf Gedankenstufen.
Zuallererst erfolgt die Einsicht, falsch gehandelt zu haben. Sodann wird der Wille zur Umkehr gefasst und anschließend die verletzte Person um Verzeihung gebeten. Dieses Verhalten führt zur Wiederherstellung des inneren und äußeren Friedens und zur Heilung der begangenen Schäden, wodurch die vor der Tat vorhandene Harmonie wiederhergestellt wird.
In der Umkehr liegen, wie wir an Josef und seinen Brüdern sehen, ungeahnte Kräfte. Die Umkehr bildet das geistige Fundament der Welt, wodurch die Welt erhalten und beständig neu erschaffen wird. Im Midrasch Pirkej de Rabbi Elieser lesen wir hierzu, dass vor der Erschaffung der Welt der Heilige, gelobt sei Er, und sein großer Name allein existierten. G’tt beschloss, die Welt zu erschaffen und begann, die Fundamente der Welt zu errichten, aber die Welt hatte keinen festen Halt. Unsere Gelehrten vergleichen dies mit einem König, der sich einen Palast bauen will. Wenn er seine Fundamente, Eingänge und Ausgänge nicht legt, kann er mit dem Bau auch nicht beginnen.
So hat auch G’tt die Fundamente der Welt gelegt, aber sie hatte keinen Bestand, bis er die Umkehr erschaffen hatte. Die Umkehr umfasst somit den dynamischen, nie abgeschlossenen Prozess unserer inneren und äußeren Veränderung, des ständigen Neugestaltens, der für uns eine tägliche Herausforderung ist und der von uns nur gemeinsam erfüllt werden kann.
Dass dieser Prozess sich alles andere als traurig gestaltet, zeigt uns der Tag, der ganz besonders im Zeichen der Umkehr steht: Jom Kippur. Hierauf verweist auch der Psychologe Erich Fromm, der sogar von einem Fehlen von Trauer oder Niedergeschlagenheit in Verbindung mit der Umkehr spricht.
Aus Josefs Verhalten gegenüber seinen Brüdern lernen wir die Umkehr als G’ttes Geschenk an die Menschen kennen. Es verbindet uns mit unserem Schöpfer, wenn wir dieses Geschenk jeden Tag neu als Gebot und Herausforderung begreifen.

Der Autor ist Leiter des religiösen Erziehungswesens der IKG München.

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