Andrej Hermlin

Der Pendler

von Katrin Richter

Berlin-Pankow und Nairobi trennen 6.380 Kilometer. Doch für Andrej Hermlin-Leder ist Kenia immer ganz nah. Und das nicht nur, weil seine Frau Joyce von dort stammt. Anfang des Jahres ist ihm das ostafrikanische Land sogar fast zu nahe gekommen.
Am 19. Januar steht der 42-jährige Jazzmusiker in der Abflughalle des Flughafens von Nairobi. Er will nach Deutschland zurück. Doch Polizeibeamte nehmen ihn fest. Hermlin steht unter Terrorismusverdacht. Zusammen mit seinem Fotografen Gerd Uwe Haut verbringt er fast zwei Tage im Gefängnis. Zwar wird er gut behandelt, doch die ungewissen Stunden nagen an ihm. »Ich war besorgt darüber, wie lange sich das hinziehen würde, eine richtige Auskunft gab es in dem Sinne ja nicht.« Aufatmen konnte Hermlin erst, als er seine Frau und seine beiden Kinder am Flughafen Tegel in Berlin wieder in die Arme nehmen konnte.
Deutschland, Kenia. Andrej Hermlin hat nicht nur eine Heimat. »Manchmal beneide ich einen ganz normalen Durchschnittsdeutschen, der sagt: ›Ich bin Brandenburger, und das war’s dann.‹« So einfach ist die Sache mit der Heimat für Hermlin nicht. Denn in ihm stecken mehrere Persönlichkeiten.

Der Sohn
Söhne berühmter Väter stehen oft in deren Schatten. Auch Hermlin hat damit seine Erfahrungen gemacht. Ende Dezember zum Beispiel lud die »Berliner Abendschau« ihn ein. Er wurde als Experte zum Ausgang der kenianischen Wahlen befragt. Zum Ende des Gesprächs verabschiedete der Moderator seinen Gast mit den Worten: »Vielen Dank, Stephan Hermlin.« Ein Versehen, das nicht von ungefähr kommt. Stephan Hermlin zählte zu den bedeutendsten Autoren in der DDR. Er wurde 1915 in Chemnitz als Sohn jüdischer Einwanderer geboren und erlangte besonders mit Abendlicht, einer halbbiografischen Textsammlung, viel Anerkennung. Die notwendige Ruhe zum Arbeiten fand der Schriftsteller in seinem Haus in Berlin-Pankow. Heute ist das unscheinbare Gebäude das Rückzugsgebiet seines Sohnes. Zwei Stockwerke und einen Vorgarten hat es. Ganz normal, möchte man meinen. Doch das Haus ist eigentlich ein Museum. Die Zeit zwischen 1920 und 1940 scheint hier wieder lebendig zu werden. Es gibt keine Alllerwelt-Möbel, sondern Originale von damals. »Ich weiß noch, wie ich mich hinter dem Vorhang in der Diele versteckt habe, als sich bei uns die Autoren versammelt haben, um ihre Solidarität mit Wolf Biermann zu demonstrieren.« Da war Andrej Hermlin gerade mal zehn Jahre alt und unbewusst Zeuge eines der wichtigsten kulturpolitischen Ereignisse der DDR, der Biermann-Petition.
Ja, dieses Haus steckt voller Geschichte. Und Andrej Hermlin hat sich dieser Umgebung angepasst. Mit seinem dunklen Nadelstreifenanzug, der auch Humphrey Bogart gehört haben könnte, dem cremefarbenen Einstecktuch und der Frisur, bei der kein Haar dem Zufall überlassen wird, wirkt er fast künstlich, nicht von heute. Es ist schwer, sich Hermlin in Jeans vorzustellen oder gar im Jogginganzug. Und selbst, wenn er lässig auf dem schwarzen Ledersofa Platz nimmt, lümmelt er sich nicht hinein, sondern bewahrt Haltung. Kerzengerade sitzt er da. Seine Stimme ist tief und hat etwas Beruhigendes. Zu fast jedem Möbelstück hat Hermlin eine Anekdote parat, die von seinem Vater handelt: Hier hat er gesessen, da Musik gehört, und dort hinten hat er gearbeitet. Und viele berühmte Freunde empfangen. Andrej Hermlin hat sie alle gesehen. Ein Privileg, wie das ungehinderte Reisen. Doch all das zählte auf dem Schulhof der Rosa-Luxemburg-Schule wenig: »Sohn eines berühmten Autors zu sein, war nicht unbedingt ein Grund, gemocht zu werden.« Als alle über die Ausbürgerung von Biermann sprachen, bekam der junge Hermlin zu hören: »Haut doch ab in den Westen!« Dennoch verbindet der Jazzfreund nicht nur schlechte Erinnerungen mit seiner Schule.

Der Musiker
Die Aula der heutigen Rosa-Luxemburg-Oberschule in Pankow und das Lincoln Center for the Performing Arts in New York haben eines gemeinsam: Auf diesen beiden Bühnen hat Andrej Hermlin Konzerte gegeben, die er nicht vergessen wird. »Ich wurde zur 100-Jahr-Feier meiner ehemaligen Schule eingeladen, und es war beeindruckend zu sehen, wie viele Teenies sich unseren Swing angehört haben.« Und dann New York. Vor ein paar Jahren stand Hermlin mit seiner Band dort auf der Bühne. Es war der Ort, an dem vor ihm bereits Swinggrößen wie Benny Goodman oder Wynton Marsalis Musik gemacht hatten. Ein Pankower in der Metropole des Jazz.
Musik, das ist Hermlins Leben. Wenn der Vater im Wohnzimmer eine Jazz-Platte auflegte, dann saß sein Sohn mit gespitzten Ohren davor. Das hat ihn geprägt. Um Hermlin war es, musikalisch gesehen, geschehen. Als Chef des »Swing and Dance Orchestra« tourt er inzwischen durch ganz Europa und die USA. Gegründet wurde die Band schon vor 20 Jahren, aber erst Mitte der 90er-Jahre wurde aus dem Dance Orchestra eine fast 30 Musiker starke Big Band. Eine richtige Aufgabe und viel Arbeit. Dabei war Hermlin während des Studiums an der Berliner »Hochschule für Musik Hanns Eisler« nach eigenem Bekunden »relativ faul«. Seine Kommilitonen hätten viel mehr geübt als er. Vielleicht, mutmaßt er, sei er kein guter Pianist, aber er habe ein gutes Gehör. Und das hat es ihm immerhin ermöglicht, sein Studium erfolgreich abzuschließen.
Mit seinem jüngsten Projekt »Bei mir bist Du schejn – Jews in Jazz« begibt sich Hermlins Orchester auf eine Reise zu den Ursprüngen des Jazz. »Ich wollte den Leuten zeigen, wer eigentlich die Stücke geschrieben hat und wo die Wurzeln liegen.« Und die fand Hermlin nicht nur in den USA, sondern auch in Russland und in Deutschland. Viele Komponisten waren Juden. Richtige Entdeckungen hat Hermlin in den Archiven der Akademie gemacht. Zum Beispiel stieß er auf einen weitgehend unbekannten Glenn-Miller-Song When that Man is Dead and Gone, der vom Tod Hitlers handelt. Musik und Politik – auch das beschäftigt Hermlin. Mit seinem Swing will er zum Beispiel ein Zeichen gegen Judenfeindschaft setzen. »In diesem Land glaubt der Antisemitismus, anerkannt zu sein. Er glaubt, sich nicht mehr verstecken zu müssen. Er ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.«
Doch Musik kann ruhig auch unpolitisch sein. Sie soll Spaß machen. Davon ist Hermlin überzeugt. Und dazu gehört eben auch die Show. Wenn Hermlin mit seiner Band im Freien auftritt, dann kann es durchaus mal vorkommen, dass neben den Musikern alte Buicks stehen. Hermlin mag Oldtimer. Zu Hause hat er einige stehen, en miniature. Auto an Auto, ganz akkurat. Die große weite Welt in einem kleinen Zimmer.

Der Weltenbummler
Eigentlich ist Andrej Hermlin eine echte Berliner Pflanze. 1965 in der Hauptstadt der DDR geboren, hat er seine Kindheit und Jugend dort verbracht. Aber eigentlich ist Hermlin ein Reisender. Seine Mutter, die Russin Irina Belokonewa, erzog ihn zweisprachig. Einmal im Jahr fuhr die Familie in die Sowjetunion, ab und zu auch ins sogenannte nichtsozialistische Ausland. »Meine Kindheit war definitiv russisch.« Noch heute ist Russland ein Teil von Hermlin. Aber der Musiker ist auch in Kenia zu Hause. Mit seiner zweiten Frau Joyce hat er ein Haus in einem Dorf am Fuß des Mount Kenia. Mehrmals im Jahr verbringt der amerikanisch-russische Berliner dort Tage, manchmal auch Wochen. »Ich sitze zwischen allen Stühlen«, sagt Hermlin über sich selbst. Das mag vielleicht unbequem klingen, hat jedoch für ihn auch Vorteile. »Dadurch, dass ich schon so viel gesehen habe, bin ich sehr kosmopolitisch. Allerdings ist dieses Nirgendwohingehören und Irgendwohingehören auch ein merkwürdiger Schwebezustand.« Und dass er zwischen beiden Polen nicht verloren geht, verdankt er seiner Frau.

Der Engagierte
Durch sie, die Kenianerin, hat Hermlin eine ganz andere Welt kennengelernt. Eine schöne Welt voller Probleme. Sie hat den Musiker nicht mehr losgelassen. In dem ostafrikanischen Land unterstützt Hermlin den Oppositionspolitiker Raila Odinga. In ihm sieht der Berliner die Zukunft des Landes. Hermlin hat sich vom ständigen Beobachter zum Einmischer gewandelt. Böse Zungen behaupten allerdings auch, der Musiker vollziehe jetzt die politische Rebellion, die ihm in seiner Jugend in der DDR nicht gelungen sei.
Derartige Kritik lässt Hermlin kalt. Er engagiert sich lieber, regt Projekte an, die konkrete Hilfe bringen sollen. In seinem kleinen Dorf am Mount Kenia haben er und seine Frau gemeinsam mit den Bewohnern eine Müllabfuhr organisiert, den Dorfplatz auf Vordermann gebracht und Straßenlampen aufgestellt. Es war das erste beleuchtete Dorf in ganz Kenia.
Dass sein politisches Engagement im Land nicht auf ungeteilte Begeisterung stößt, musste Hermlin mit seiner vorübergehenden Festnahme im Januar erfahren. Umso dankbarer ist er heute Botschafter Walter Lindner, der sich erfolgreich um seine Freilassung bemüht hatte. Doch Ärger hin oder her: Der Vorfall tat Hermlins Liebe zu Kenia keinen Abbruch. »Zu gegebener Zeit werde ich wieder hinfahren. Aber mein politisches Engagement stelle ich ein. Eine kenianische Frau macht mich noch lange nicht zum Kenianer.« Zwischen Berlin-Pankow und Nairobi liegen eben doch mehr als 6.380 Kilometer. Manchmal sind es ganze Welten.

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