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Der Mann, der »van der Linden« war

Hans Keilson, Jahrgang 1909, erinnert sich, wie sein Vater, ein »dekorierter Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs«, im niederländischen Exil mit der Hand auf dem Herzen paradierende deutsche Besatzungssoldaten auf einem Kasernenhof in Amsterdam bewundert. Was seine Hand verdeckte, war der Judenstern.
Die Keilsons, orthodoxe Juden und deutsche Patrioten, lebten in Bad Freienwalde an der Oder, wo der Vater ein bescheidenes Textilgeschäft unterhielt, das von der Wirtschaftskrise Ende der 2oer-Jahre hart getroffen wurde. Die Eltern gaben das Geschäft auf und zogen nach Berlin. 1943 wurden sie nach Auschwitz deportiert und ermordet. Hans Keilson, der Sohn, überlebte. Er tauchte unter, floh nach Holland und arbeitete als »Doktor van der Linden« im Untergrund für die Widerstandsorganisation »Vrije groepen Amsterdam«. Erst vor einigen Jahren besuchte er – für eine Filmdokumentation über sein Leben – wieder seinen Geburtsort Bad Freienwalde. Spuren des einstigen jüdischen Lebens fand er dort kaum. Dort, wo früher die Synagoge stand, waren zu DDR-Zeiten Garagen aufgestellt worden. Hans Keilson ging wieder nach Holland zurück, nach Bussum bei Amsterdam, wo er vor mehr als 7o Jahren Zuflucht gefunden hatte.
Das war 1936 gewesen. Hans Keilson hatte nach dem Abitur 1928 in Berlin Medizin und Sport studiert und seinen ersten Roman veröffentlicht. Das Leben geht weiter kam 1933 im S. Fischer-Verlag heraus und wurde kurz nach Erscheinen von den neuen Machthabern verboten. Kein Wunder: In dem Buch geht es unter anderem um den Opportunismus einer ganzen Stadt, die sich ohne größeren Zwang an die Nazis ausliefert. Die Sprache ist durchaus unspektakulär, sie vermeidet jedes Pathos. Aber dieses Erstlingswerk hilft beim Verstehen der Gründe für das Scheitern der Demokratie in Weimar.
Dann brannte der Reichstag, und anschließend brannten die Bücher von Marx, Heine, Freud und Spinoza. Keilson glaubte, wie viele deutsche Juden, der braune Spuk werde nicht allzu lange dauern. Seine Frau, die nichtjüdische Grafologin Gertrud Manz, hatte ein besseres politisches Gespür. Sie ging 1935 in die Niederlande und prüfte die Möglichkeiten für eine Einwanderung. Ein Jahr später folgte ihr Hans Keilson. Als im Mai 1940 die Deutschen die Niederlande besetzten, musste er untertauchen. Die Solidarität, die der Intellektuelle im holländischen Untergrund auch bei sogenannten einfachen Leuten antraf, hat ihn tief beeindruckt. Nach der Befreiung blieb er in den Niederlanden. Nur seine Romane und Erzählungen schrieb er weiterhin auf Deutsch.
Im Versteck, auf der Flucht vor den Nazis, entstand auch Hans Keilsons schwierigster, anspruchsvollster Roman Der Tod des Widersachers, den er erst nach dem Krieg vollendete. Das Buch erzählt eine bizarre, tragikomische Geschichte, die sogar in der an Merkwürdigkeiten nicht gerade armen Emigrantenliteratur aus dem Rahmen fällt. Im Zentrum steht eine Parabel: Der deutsche Kaiser bekommt vom russischen Zaren eine Herde Elche geschenkt. Die Tiere werden gut versorgt. Dennoch verenden sie nach und nach. Ihnen haben die Wölfe als ihre natürlichen Feinde gefehlt. In dieser Geschichte scheint der Psychologe Keilson durch, der im holländischen Widerstand, wenn es zwischen den einzelnen Gruppen immer wieder auch zu Konflikten kam, schlichten musste. Nach der Befreiung gehörte er zu den Gründern der Organisation Le-Ezrat Ha-Jeled (Hilfe für das Kind). Sie unterstützte jüdische Kinder und Jugendliche, die die KZs überlebt hatten, bei der schwierigen Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Ein Thema, das Keilson nicht mehr losließ. Nachdem er von 1967 bis 1974 an der Kinderpsychologischen Universitätsklinik Amsterdam als Psychiater gearbeitet hatte, promovierte er als 70-Jähriger mit einer Langzeitstudie über die sequenzielle Traumatisierung jüdischer Kriegswaisen, von denen über 2.000 in den Niederlanden leben. Keilson, der mit mehr als 200 dieser Kinder gearbeitet hatte, gewann zahlreiche Erkenntnisse darüber, wie sich die seelischen Verletzungen manifestieren und wie die Kette solcher Traumata unterbrochen werden kann.
Die deutsche Literaturszene der Nachkriegszeit hat sich für Keilson, wie für viele andere emigrierte jüdische Schriftsteller, nicht sonderlich interessiert. Er hat sich dadurch nicht irritieren lassen. Er blieb in den Niederlanden, lehrte zwischenzeitlich als Gastprofessor in Kassel, präsidierte für ein paar Jahre dem Auslands-PEN deutschsprachiger Autoren. Aber mit dem deutschen Literaturbetrieb wollte er nach dem Krieg nichts zu tun haben. Nur noch mit seiner deutschen Sprache. Am 12. Dezember wird Hans Keilson, Schriftsteller, Widerstandskämpfer, Psychologe 100 Jahre alt. Wolf Scheller

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