Jacques Derrida

Der auserwählte Einzelne

von Harald Loch

Kurz vor seinem Tod 2004 traf der französische Philosoph Jacques Derrida die Pariser Historikerin Élisabeth Roudinesco zu einem langen Gespräch. Aus dem letzten großen Interview eines der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts wurde ein Buch, das jetzt auch in Deutschland erschienen ist: Woraus wird Morgen gemacht sein? Der Titel ist einem Gedicht von Victor Hugo entnommen, in dem es weiter heißt: »Alles ist heute im Untergang begriffen. Von welcher Beschaffenheit ist dieser Untergang, was wird auf ihn folgen?«
In acht Kapiteln versuchen Derrida und Roudinesco, diese Frage zu beantworten. Sie analysieren politische und kulturelle Topoi, vom Erbe der Zeit um 1970 über politische Korrektheit und die Todesstrafe bis zum »Geist der Revolution«. Die Steine, aus denen die beiden Gesprächspartner das Morgen bauen wollen, stammen aus der Bauhütte der Aufklärung, vor allem aber aus dem Erbe Sigmund Freuds und der Psychoanalyse, mit deren Geschichte Roudinesco sich intensiv befaßt hat. Im Verlauf der Unterhaltung werden die brisanten Themen der Politik, die Philosophie, ja die Sprache selbst sozusagen auf die Couch gelegt.
Deutlich wird dabei die intellektuelle Verwandtschaft von Derridas philosophischem Konzept der Dekonstruktion einerseits und der Psychoanalyse andererseits deutlich. Philosophisch ist Freuds Erbe auch 150 Jahre nach seiner Geburt alles andere als überholt. Auf ihren gedanklichen Kern dekonstruiert, hat die Psychoanalyse, so Derrida und Roudinesco, für die europäisch geprägte Welt von heute eine Bedeutung, wie einst die griechische Philosophie für die Antike und später die Aufklärung für die Moderne. Daß die heute noch in der arabisch-muslimischen Welt tabuisierte Freudsche Lehre etwa einen Beitrag dazu leisten könnte, das System der Verdrängung des Weiblichen in der islamischen Welt aufzulösen, ist einer der faszinierenden Gedanken, die sich aus dem Dialog heraus entwickeln.
Ein wichtiges Thema in dem Gespräch ist der auch »künftige Antisemitismus« und die Frage, wie Judentum sich heute definieren kann. Der ungläubige Jude Derrida und die katholisch getaufte Jüdin Roudinesco sind sich einig in ihrem Mißtrauen gegen den traditionellen Begriff des auserwählten Volkes. Derrida will ihn durch eine »Auserwähltheit eines jeden einzelnen« ersetzen. »Das nenne ich Beschneidung im buchstäblichen oder übertragenen Sinne. Ich bin geprägt, noch bevor ich sprechen kann.« Und an seine Gesprächspartnerin gewandt, sagt Derrida: »Sie sind nicht beschnitten worden, aber Sie wissen, daß eine Prägung Ihrem Katholizismus voraus- und durch ihn hindurchgegangen ist.«

jacques derrida / elisabeth
roudinesco: woraus wird morgen gemacht sein? ein dialog
Übersetzt von Hans-Dieter Gondek
Klett-Cotta, Stuttgart 2006 383 S., 29,50 €

Nach Absage in Belgien

Dirigent Shani in Berlin gefeiert

Nach der Ausladung von einem Festival werden die Münchner Philharmoniker und ihr künftiger Chefdirigent Lahav Shani in Berlin gefeiert. Bundespräsident Steinmeier hat für den Fall klare Worte

von Julia Kilian  15.09.2025

New York City

UN-Sicherheitsrat verurteilt Israels Angriff auf Katar einhellig

Sogar die USA schlossen sich der Erklärung an

 12.09.2025

Eurovision Song Contest

Gegen Israel: Irland erpresst Eurovision Song Contest-Veranstalter

Nach Slowenien hat auch Irland verkündet, dem Eurovision Song Contest fernzubleiben, sollte Israel teilnehmen. Damit verstoßen sie gegen Grundregeln des international beliebten TV-Wettbewerbs

 11.09.2025

Krieg

Zwei Raketen aus Gaza auf Israel abgeschossen

Am Sonntagmorgen wurde Israel aus dem Gazastreifen mit Raketen beschossen. Eine Bekenner-Erklärung gibt es auch

 07.09.2025

Berlin

Uni-Präsidentin rechnet mit neuen »propalästinensischen« Aktionen

Die Präsidentin der Humboldt-Universität, Julia von Blumenthal, rechnet zum Wintersemester erneut mit »propalästinensischen« Aktionen. Dabei seien unter den Beteiligten kaum Studierende

 07.09.2025

Diplomatie

Netanjahu geht auf Belgiens Premier los

Für seine Entscheidung, Palästina als Staat anzuerkennen, wird Bart De Wever vom israelischen Ministerpräsident persönlich attackiert

von Michael Thaidigsmann  04.09.2025

Hannover

Angriff auf Gedenkstätte: Staatsanwaltschaft erhebt Anklage

Ein 26-jähriger Rechtsextremist war im Mai in Budapest festgenommen worden

 02.09.2025

Nahost

Deutscher Beauftragter für Menschenrechte reist nach Israel

Lars Castellucci macht sich ein persönliches Bild von der Lage in Israel und den palästinensischen Gebieten. Ein Augenmerk liegt darauf, wo deutsche Hilfe möglich ist - und wo sie behindert wird

 01.09.2025

Rotes Meer

Huthi greifen Öltanker an

Das Schiff gehört einem israelischen Milliardär

 01.09.2025