Ratstagung

Demokratie und Demografie

An mahnenden Worten, respektvoll miteinander umzugehen, hat es bei der Ratsversammlung des Zentralrats der Juden in Deutschland am vergangenen Wochenende in München nicht gemangelt. Ob die flammende Rede des ehemaligen Generalsekretärs des Jüdischen Weltkongresses, Israel Singer, beim Galadinner am Samstagabend im Münchner Gemeindezentrum gefruchtet hatte, oder Einsicht das Handeln diktierte, blieb offen.
Zügig wie nie, handelten die 95 Delegierten die Tagesordnungspunkte von einiger Brisanz: Wirtschaftsplan und Schiedsgericht, ab. Ohne größere Blessuren habe der Zentralrat die Wirtschaftskrise überstanden, so der Finanzdezernent und Vizepräsident Dieter Graumann in seinem knappen Bericht. Mit filigraner Balance habe man einen ausgeglichenen Haushalt aufstellen können. Die stark gesunkenen Zinserträge als Folge der weltweiten Krise gemahnten allerdings zu Vorsicht in der Zukunft, betonte Graumann.

Enger Finanzrahmen Mehr Geld als in diesem sorgsam aufgebauten Finanzgebäude eingestellt, gäbe es nicht. Zwar habe man für Notzeiten vorgesorgt, so dass es keine Einbrüche bei der Finanzierung der vielen Aufgaben gäbe, aber damit sei auch die äußerste Belastbarkeit erreicht. Man könne von großem Glück sprechen, dass die Aufstockung des Staatsvertrags mit der Bundesregierung auf fünf Millionen Euro bereits im vergangenen Jahr vollzogen worden sei. »Heute wäre das nicht mehr möglich«, betonte Graumann.
Was der Zentralrat mit dem Geld erreichen konnte, stellte seine Präsidentin Charlotte Knobloch in ihrem ausführlichen Rechenschaftsbericht vor. Nach wie vor wichtig und unerlässlich seien die Unterstützung für die Integrationsprojekte sowie für Bildung und Forschung. Knobloch meinte damit vor allem die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die am 30. September ihren dringend benötigten Neubau beziehen konnte. Darüber hinaus wurde ein weitreichendes Stipendienprogramm für Studierende aufgelegt.
Knobloch appellierte eindringlich an die Delegierten der Landesverbände, junge Kandidaten aus den Gemeinden zu einem Studium zum Religionslehrer, Kantor oder Rabbiner zu ermutigen. Für Lehrer und Rabbiner biete die Hochschule inzwischen hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten. Die Berliner Kantorin und Direktorin des Jewish Institute of Cantorial Arts, Mimi Sheffer, stellte ihr Ausbildungsprogramm für Kantoren in Berlin vor, das ebenfalls vom Zentralrat unterstützt wird.
Die Erfolge der Rabbinerausbildung ließen sich im vergangenen Jahr an den zwei Ordinierungsfeiern vom orthodoxen Lauder-Institut in München und vom liberalen Abraham-Geiger-Kolleg in der Synagoge Rykestraße in Berlin ablesen. Zu den Er-
folgsnachrichten zählte Knobloch auch den vor gerade einer Woche stattgefundenen Jugendkongress in Bad Kissingen. Die teilweise hitzigen Debatten um das Thema jüdische Identität hätten gezeigt, wie aktiv sich junge Juden um ihre Zukunft Gedanken machen.

Mitgliederschwund Das sei auch dringend notwendig, konstatierte Knobloch. Der demografische Faktor weise eine verheerende Bilanz auf: 171 Geburten stünden 1.038 Todesfällen gegenüber. Die Zuwanderung aus den Ländern der GUS sei fast zum Erliegen gekommen. Derzeit würden nur noch 100 Anträge pro Vierteljahr gestellt. Die Zuwanderung von israelischen und amerikanischen Juden gleiche nicht aus, was neben der hohen Sterberate den Gemeinden an Austritten verloren ginge, betonte die Zentralratspräsidentin. »Wir müssen diesen Vorgang bremsen, damit die Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte nicht verpuffen.«
Entgegen anders lautender Prognosen hält Knobloch jedoch auch die kleineren Gemeinden für lebens- und überlebensfähig, da sie hier eine besondere Nähe der Mitglieder untereinander gespürt habe. Sorgen bereitet ihr allerdings die Kürzung der Integrationsmittel von ursprünglich 1,2 Millionen Euro auf 400.000 im kommenden Jahr. 2013, so rechnete sie vor, soll die Integration von jüdischen Zuwanderern staatlicherseits nur mit 100.000 Euro gefördert werden.
Wichtiger Faktor für die Erhaltung der Gemeinden sei, authentische jüdische Er-
fahrungen zu befördern. Dies geschehe in jüdischen Kindergärten, einem jüdischen Schulwesen und in der Jugendarbeit. »Wir müssen uns ganz intensiv um unseren Nachwuchs kümmern«, forderte Knobloch. Summercamps für 12- bis 18-Jährige seien sehr gut geeignet, Kinder ans Judentum heranzuführen, möglichst länderübergreifend im europäischen Rahmen.

Schächten Als politische Vertreterin aller Juden in Deutschland nahm Knobloch aber auch zu Fragen Stellung, die das jüdische Leben beeinflussen. Weiterhin auf der Tagesordnung seien die Themen Schächten und Britmila. Hierzu sei in Kürze mit einer Gesetzesinitiative im Bundesrat zu rechnen. Die Anzahl der rechts- wie linksextremistischen Gewalttaten sei auch im vergangenen Jahr wieder gestiegen. Gerade der Rechtsextremismus werde fast zu einem unlösbaren Problem.
Sorgen bereiteten der Zentralratspräsidentin nach wie vor die Entwicklung in Nahost und die nukleare Aufrüstung Irans. Knoblochs Mahnung ging in diesem Zu-
sammenhang in Richtung der deutschen Wirtschaft. Solange ihre Interessen Sanktionen entgegenstünden ja sogar verhinderten, sei die gesamte westliche Welt durch das Mullahregime bedroht. Die Firma Siemens sei immer noch der größte Handelspartner Irans.
Doch nicht nur der Kampf nach außen muss befriedet werden, auch der innerjüdische in Deutschland. Nach drei Jahren konnte sich die Ratsversammlung nun auf die Änderung des Paragrafen 15 einigen, der es durch seine Neuformulierung er-
möglichen wird, dass Schiedsgerichtsurteile auch vollstreckbar werden. Trotz einiger Bedenken einigten sich die Delegierten darauf, die Folgen der Satzungsänderung sich in der Praxis bewähren zu lassen.

erste Frau Auch das Schieds- und Verwaltungsgericht beim Zentralrat verändert sein Gesicht. Für den orthodoxen Rabbiner Julian Chaim Soussan, der wie vor einem Jahr angekündigt, von seinem Posten zurücktrat, wurde der liberale Landesrabbiner Jonah Sievers in das Gremium gewählt. Mit der Frankfurter Rechtsanwältin Miriam Adelhoch gehört ihm erstmals eine Frau an. Neben Marc Grünbaum, der das Gericht im vergangenen Jahr geleitet hatte, gehören ihm Daniel Neumann aus Frankfurt und Nathan Gelbart aus Berlin an.
Das neue Schiedsgericht hat die Aufgabe, innerjüdische Streitigkeiten dauerhaft und konstruktiv zu schlichten. Auch die Führung des Zentralrats gab sich für das kommende Jahr die auch von den Rabbinern Soussan und Henry G. Brandt angemahnten Aufgaben mit auf den Weg, über Zukunftsziele, neue und modernere Strukturen nachzudenken. »Wir haben eine Verantwortung für die Menschen, die uns gewählt haben, jeder auf seine Art und an seiner Stelle«, gab Dieter Graumann zu bedenken. Eine Nachhilfestunde von außen brauche man dabei allerdings nicht, betonte der Vizepräsident.

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