Frauenschicksale

Das weibliche Ufer der Mazzesinsel

von Jutta Sommerbauer

Ihre Wege kreuzen sich in der Leopoldstadt, viele Male. Gemeinsamen Schrittes gehen sie jedoch selten, jene sieben jüdischen Frauen, deren Biografien Alexia Weiss in ihrem Debütroman Haschems Lasso ausschnittsweise beschreibt. Die Erfahrungen von Claudia, Desiree, Hanni, Jekaterina, Jennifer, Rachel und Ruth sind Mosaiksteine einer lebendigen Gemeinde: einzelne, farbenfrohe Teile, die ein vielgestaltiges Ganzes bilden, aber miteinander nicht unbedingt harmonieren.
Die Leopoldstadt also: Der zweite Wiener Bezirk, in dem sich in den vergangenen Jahrzehnten wieder ein vitales jüdisches Leben entwickelt hat, vital, aber dennoch nur ein kleiner Teil dessen, was hier einmal war bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1938. Man nannte den zweiten Bezirk früher auch »Mazzesinsel«, weil er ein schmaler Streifen Land ist zwischen Donau und Donaukanal.
Aber Weiss schreibt nicht über die Vergangenheit, sondern übers Heute, die Welt, in der ihre Protagonistinnen leben. Mit all den Verwerfungen, die sich nach der Schoa in den Lebensrealitäten der Frauen widerspiegeln.
Da ist die Psychologin Ruth, sie arbeitet in einer jüdischen Schule. Als sie den »lieben, süßen Goj« Andreas als ihren Partner wählt, bringt sie ihre Eltern auf die Palme. »Alle sind Antisemiten hier«, schreit ihre Mutter. »Du kannst niemandem vertrauen.«
Da ist Hanni, die als Mädchen immer ins Leopoldstädter Dianabad schwimmen ging, bis sie wegen der Nazis in die USA emigrieren musste. Sie denkt noch immer voller Nostalgie an »ihr« Wien zurück – und wird bei einem Besuch ihrer alten Heimat von den Bürgern der Stadt heftig enttäuscht.
Weiss erzählt vom Leben ihrer Protagonistinnen und von Konflikten zwischen den Generationen. Ganz langsam nähert sie sich der Frage, wie das Judentum im heutigen Wien gelebt werden soll.
Eva, Anfang 20 und Tochter der säkularen Journalistin Desiree, will ihren Daniel unbedingt auf der Stelle und unbedingt traditionell jüdisch ehelichen – weil sie Angst hat, im späteren Leben in dieser Stadt keinen jüdischen Partner mehr zu finden. Die junge Generation, der Eva angehört, bringt ihr aktiv gelebtes Judentum gegenüber der Generation der Mütter in Stellung: »Wir können nur selbstbewusst auftreten, wenn wir uns bewusst sind, was wir sind.«
Kapitelweise wechselt die Autorin die Erzählperspektive und folgt den Frauen einen kurzen Teil ihres Weges. Doch die Fäden bleiben lose, laufen nicht näher zusammen: Eine gewisse Enttäuschung für den Leser, der zwar nicht auf ein Happy End gehofft hat, es aber gern gesehen hätte, wenn die losen Handlungsstränge etwas mehr zusammengelaufen wären.
Und so bleibt die Kommunikation zwischen den jüdischen Lebensrealitäten aus: Da sind die einen, denen die Stadt offensteht, die auf Partys, Vernissagen und ins Fitnessstudio gehen. Anders die orthodoxe Welt, die »Scheitelfrauen«, wie Desiree sie nennt: Verwurzelt in ihrem Bezirk, spielt sich ihr Leben zwischen Synagoge, koscherem Supermarkt und der jüdischen Schule ab, wohin sie ihre Kinder begleiten.
Weiss legt nahe: Ein Leben fernab der Mehrheitsgesellschaft ist unmöglich. Auch die Orthodoxen werden von ihren Kindern herausgefordert. In einer Szene rebelliert Sarah, Tochter der streng religiösen Konvertitin Claudia, gegen deren fromme Einkaufsregeln: Sie sucht sich in einem Geschäft die kürzesten Röcke aus.
Zum Teil schablonenhaft skizziert Weiss die Welt der observanten Familien: Verunsicherte Frauen, abhängig von den Männern. Da ist Jekaterina, Zuwandererin aus Russland, die ihrem Mann zuliebe ein Leben nach dem orthodoxen Regelwerk führt, der es aber nicht gelingen will, in Wien heimisch zu werden. Verloren irrt sie durch die Stadt, liest russische Groschenromane, die ihr Mann niemals finden dürfte. Schließlich reist sie mit ihrer Familie nach Israel aus: auf einen besseren, zweiten Neubeginn. Die Leopoldstadt ist um einen Mosaikstein ärmer geworden.

alexia weiss: haschems lasso
Milena, Wien 2009, 245 S., 19,90 €

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