Der soziale Ausnahmezustand infolge des antisemitischen Massakers der Hamas am 7. Oktober hat sich nach den Worten der Berliner Psychologin Marina Chernivsky für viele Jüdinnen und Juden hierzulande normalisiert. »Die jüdische Gemeinschaft lebt nach dem 7. Oktober mit dem Wissen um das Potenzial der Bedrohung. Ausnahmezustände werden in Kriegen und Krisen zur Gewohnheit«, sagte Chernivisky.
Die Psychologin veröffentlichte in der vergangenen Woche ihren Essayband Bruchzeiten. Leben nach dem 7. Oktober. Sie leitet das von ihr gegründete Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung sowie die bundesweit tätige Beratungsstelle OFEK in Berlin.
Sie wurde im ukrainischen Lviv geboren und wuchs in Israel auf. 2000 kam sie als Studentin nach Berlin. Ihre Familie lebt in Israel.
Chernivsky beschreibt eine doppelte Herausforderung für die jüdische Community
In ihrem Buch beschreibt Chernivsky eine doppelte Herausforderung für die jüdische Community seit dem 7. Oktober: »Menschen müssen die Massaker und den Krieg verarbeiten und gleichzeitig mit der Bedrohung leben.« Gewalt gegen Juden produziere stets neue Gewalt.
Beim Angriff der Hamas auf Israel wurden am 7. Oktober 2023 rund
1200 Menschen getötet und mehr als 200 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Das Pogrom löste den Gaza-Krieg aus. Chernivsky sagte, sie habe sich gefragt, wie eine traumatische Erinnerung an etwas entstehe, das man selbst nicht direkt erlebt habe. Ihre ersten Eindrücke seien die Überschriften und Bilder in den Medien gewesen.
»Zu unseren Lebzeiten haben wir diese Gewalt gegen Juden so noch nicht gespürt.«
»Ich wusste, dass etwas geschehen ist, was uns noch lange beschäftigen wird. Zu unseren Lebzeiten haben wir diese Gewalt gegen Juden so noch nicht gespürt, obwohl sie sich in Zyklen in der Geschichte immer wiederholt hat.« In der Beratungsstelle OFEK habe ihr Team bereits am 7. Oktober den Krisenmodus ausgerufen, weil klar gewesen sei, dass antisemitische Angriffe und Vorfälle zunehmen würden.
Jüdinnen und Juden in Deutschland hätten kaum Empathie infolge des Terrorangriffs erfahren
Hierzulande hätten Jüdinnen und Juden kaum Empathie infolge des Terrorangriffs erfahren, obwohl viele aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Community oder familiärer Verbindungen nach Israel betroffen gewesen seien. Reaktionen auf den Terror seien oft von Passivität und Kälte geprägt gewesen, sagte Chernivsky. »In der postnationalsozialistischen Gesellschaft ist das Einfühlungsvermögen für Juden historisch aufgebraucht.«
»Gewalt gegen Juden hat sich immer vor den Augen anderer ereignet.«
Viele Menschen in Deutschland hielten die Schoa für ein abgeschlossenes Ereignis in der Vergangenheit. Der Blick auf die Nachwirkungen der Schoa sei nie wirklich da gewesen. »Wir teilen ein und dieselbe Geschichte und erinnern doch unterschiedliche Geschichten«, schreibt Chernivsky in ihrem Essayband.
Chernivsky betont, die Gewalt gegen Juden habe sich immer vor Augen anderer ereignet. »Die Bereitschaft der anderen, dabei mitzuhelfen oder aber nicht einzuschreiten, hat das ermöglicht.«