Bad Segeberg

Aufbau Nord

von Gabriela Fenyes

»Wladimir, gib mir bitte mal den Farbeimer von da hinten«, ruft Mascha. »Welchen meinst du, hier stehen so viele«, anwortet dieser. »Die sind alle leer«, sagt die 19-Jährige verschmitzt. Aus dem Kellergeschoss kommt die 12-jährige Viktoria angerannt und verkündet stolz: »Das Jugendzentrum ist gestrichen.« Alle klatschen. Auf einer der ungewöhnlichsten Baustellen herrschen eine fröhliche Stimmung und ein Sprachengewirr aus Deutsch und Russisch. Es wird gehämmert, gebohrt und geputzt, die Zeit sitzt den freiwilligen Helfern, Gemeindemitgliedern, Freunden und Familien der Bad Segeberger jüdischen Gemeinde im Nacken. Sie wissen, bis zum 24. Juni müssen die Räume im Keller und im Erdgeschoss fertig sein.
Am wichtigsten ist der 150 Quadratmeter große Multifunktionsraum. Er dient als Bet- und Gemeindesaal, beherbergt die Bibliothek und ist gleichzeitig Besprechungsraum. Die koschere Küche muss noch eingebaut werden, die milchige ist blau, die fleischige rot. Im Keller ist die Mikwe zwar fertig gebaut, aber noch völlig kahl. Die Kacheln stehen in Packungen auf dem Boden, aus den Wänden hängen Kabel. Die Kinder- und Jugendräume, das Büro des Rabbiners und auch der Clubraum des Sportclubs Makkabi Segeberg müssen noch fertiggestellt werden.
Und auch wenn heute noch nicht alles vollendet ist, sind die Gemeindemitglieder zuversichtlich: Am 24. Juni, dem 8. Tammus, kann das Gemeindezentrum in Anwesenheit des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten, Peter Harry Carstensen feierlich eingeweiht werden. Das Zentrum soll »Mischkan HaZafon« heißen, die »Synagoge des Nordens«. Dieser Name erinnert an das Stiftszelt der Israeliten und symbolisiert, dass »wir angekommen sind«, sagt der Vorsitzende der Gemeinde, Walter Blender.
In dem neuen Gebäude soll auch der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Schleswig Holstein, dem fünf Gemeinden angehören, seinen Sitz haben. Schon seit Jahren betreut Rabbiner Walter E. Rothschild die Gemeinden. Am 24. Juni soll er in einem Gottesdienst offiziell in sein Amt als Landesrabbiner von Schleswig-Holstein eingeführt werden. Mit drei Torarollen will die Gemeinde diesen Festtag begehen, doch für den Kauf der dritten fehlt noch das Geld. Die Gemeinde hofft auf Spenden, damit sie zumindest eine Anzahlung für die 8.000 Euro teure Sefer Tora bezahlen kann. Erst in der vergangenen Woche hat sie eine 300 Jahre alte Tora-Rolle zurückerhalten, die als Dauerleihgabe 75 Jahre lang in einem Lübecker Museum lag (vgl. Jüdische Allgemeine vom 17. Mai).
Walter Blender strahlt in diesen hektischen Tagen, er ist zuversichtlich, dass die Mittel für die Tora aufgebracht werden können. »Wir haben so viele gute Erfahrungen gemacht und von überall Unterstützung erhalten«, sagt er und blickt mit seinen stahlblauen Augen auf das licht- durchflutete erste Stockwerk, den eigentlichen Betsaal und die darüberliegende Empore. Dann zeigt er auf ein Fenster, das als Davidstern geschnitten ist und gen Osten zeigt. »Nach Jerusalem«, sagt er und reißt die Arme hoch, »wir sind berauscht.«
Dann wird er wieder nüchtern und realistisch und sagt, dass diese Stockwerke später ausgebaut werden müssen. Der 46-Jährige, im Beruf Kriminalhauptkommissar, ist der Motor der Gemeinde, aber er hört dies nicht gern. »Wir sind eine Familie«, sagt er. Seine Frau Miriam stimmt ihm zu, obwohl sie ihren umtriebigen Mann zu Hause nicht so oft sieht. Sie berichtet von den Aktivitäten in der Gemeinde: Jugendarbeit, Kulturprogramme, Religionsunterricht, Deutschkurse für die rus- sischsprachigen Mitglieder – das sind die meisten –, Sozialarbeit, Hilfe bei Behördengängen, und sie erzählt vor allem von den Gottesdiensten, in denen Frauen und Männer gleichberechtigt sind. »Wir können alle beten und aus der Tora lesen, und alle Gemeindemitglieder können dem Gottesdienst folgen.« Dann zeigt sie Plastikmappen mit den hebräischen Gebeten in phonetischer Umschrift, so dass alle mitsingen und mitsprechen können, daneben die Übersetzung ins Deutsche und Russische. Die Mappen liegen geordnet in den kleinen Gemeinderäumen in einem Wohnhaus in der Bad Segeberger Kurhausstraße, nur einige Minuten vom neuen Gemeindezentrum im Jean-Labowski-Weg 1 entfernt. Der kleine holprige Pfad, die neue Adresse des Gemeindezentrums, erhielt am 20. Mai den Namen des einzigen jüdischen Schoa-Überlebenden der norddeutschen Kreisstadt: Jean Labowski (1891-1964) war von 1946 bis 1950 Stadtdirektor von Bad Segeberg. Der Weg führt zu dem Klinkerbau gegenüber dem ehemaligen jüdischen Friedhof der Stadt, der 1792 eröffnet und bis 1936 Begräbnisstätte war. »Alles ist wieder an einem Platz«, sagt Walter Blender.
Die Geschichte der 2002 gegründeten jüdischen Gemeinde ist eine Erfolgsgeschichte, aber sie ist auch beispielhaft für Eigeninitiative, Zähigkeit und Courage. Im Februar 2002 wurde die Gemeinde mit 28 Erwachsenen und 13 Kindern gegründet, heute hat sie 150 Mitglieder. »Es war ein weiter Weg bis dahin«, sagt Vorstandsmitglied Ljudmilla Budinkow, »es gab viele Hürden und Streit mit Nachbargemeinden«. Aber darüber will sie nicht mehr sprechen, »wir sehen nach vorne«. Sie blickt auf ihre Hände und lacht. »Die sehen nicht aus wie die einer Verwaltungsangestellten.« Die 43-jährige Mutter zweier Töchter arbeitet beim Jugendamt der Stadt.
Seit die Segeberger vor vier Jahren vom Magistrat der Stadt das 3.500-Quadratmeter-Grundstück, die alte Lohmühle, zu einem symbolischen Preis von einem Euro pro Quadratmeter bekommen haben, war Budinkow in ihrer Freizeit fast täglich auf dem heruntergekommenen Gelände. Von Anfang an legten die Gemeindemitglieder selbst Hand an, entfernten das Gestrüpp auf dem verwucherten Grundstück, entrümpelten das vermüllte Gebäude. »Aber wir haben auch viel Unterstützung und Baumaterial von Firmen, Gärtnereien und Sponsoren erhalten«, sagt Budinkow.
1,6 Millionen Euro kostet der Bau. Das Land Schleswig-Holstein beteiligte sich mit 250.000 Euro daran, 35.000 Euro kamen von der Stiftung Holstein-Herz, 14.000 Euro von der Bingo-Lotterie. »Uns fehlen noch 150.000 Euro, damit wir die obersten Geschosse ausbauen können«, sagt Vorstandsmitglied Stephan Weckwert. »Wir wollen keine Schulden machen«, erklärt der Schatzmeister der Ge- meinde. Weckwert ist Krankenpfleger, ein ruhiger, besonnener Mann, aber seine Augen strahlen, wenn er erzählt, dass seine Tochter Patricia und ihre Freundin Viktoria, die Tochter seiner Vorstandskollegin Budnikow, im Juli die erste Batmizwa im neuen Gemeindezentrum feiern.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Juni bis zum 18. Juni

 11.06.2025

Tel Aviv/Gaza

Israel will Ankunft von Thunbergs Schiff in Gaza verhindern

Das Schiff des Bündnisses Freedom Flotilla Coalition ist unterwegs nach Gaza. Nach Angaben der Aktivisten nähern sie sich immer mehr dem Gebiet - Israel droht ihnen nun

 08.06.2025

Petition

Deutsche Prominente werfen Israel Völkermord vor

Die Unterzeichner verlangen eine Aussetzung von Rüstungsexporten

 05.06.2025

Bundestag

Wegen »Palestine«-Shirt: Linken-Abgeordnete des Plenarsaals verwiesen

Mit der politischen Botschaft auf ihrer Kleidung hatte Cansin Köktürk offenbar gegen die Regeln des Hauses verstoßen. Die Bundestagspräsidentin zog die Konsequenz

 04.06.2025

Medien

Presseschau zur Debatte um Deborah Feldmans »Weltbühne«-Artikel

In dem Blatt des umstrittenen Verlegers Holger Friedrich zieht die Autorin die Jüdischkeit des Chefredakteurs der Jüdischen Allgemeinen in Zweifel. In Zeitungskommentaren wird nun vernichtende Kritik an ihrem Text geübt

 26.05.2025

Israel

Geisel-Angehörige fordern Ende des »Albtraums«

Seit bald 600 Tagen hält die Hamas noch 58 lebende und tote israelische Geiseln im Gazastreifen fest. Israelis demonstrieren vehement für ihre Freilassung und fordern ein Ende des Krieges

 24.05.2025

Nachrichten

Strände, Soldat, Flüge

Kurzmeldungen aus Israel

von Sabine Brandes  21.05.2025

Sachsen-Anhalt

Sachsen-Anhalt: Verfassungsschutz sieht Demokratie bedroht

Im Osten ist die AfD besonders stark. Allerdings etablieren sich auch andere rechtsextremistische Bestrebungen

von Christopher Kissmann  19.05.2025

London

Nach antisemitischem Post: Lineker hört bei BBC auf

In den sozialen Medien teilt Gary Lineker einen Beitrag zum Israel-Gaza-Konflikt mit antisemitischer Konnotation. Nun zieht der frühere Fußballstar die Konsequenz

 19.05.2025