Jewish AIDS Network Chicago

An der Zeit

von Tobias Kühn

Kann ein einzelner Mensch ein Netzwerk sein? Ja. Norman Sandfield ist ein Beispiel dafür: Der 62-Jährige betreibt in seiner Wohnung das Jewish AIDS Network Chicago. Er ist dessen einziger Mitarbeiter und tut es ehrenamtlich. Seinen Lebensunterhalt verdient Sandfield mit dem Verkauf japanischer Antiquitäten. Vom Arbeitszimmer in einem Hochhaus in Boystown, dem Schwulenviertel der Stadt, blickt der Mann mit der lichten Stirn weit über den Michigansee. Gemessen an der Aussicht, könnte man Sandfields Büro für die Chefetage eines zumindest mittelgroßen Unternehmens halten. Doch anders als dort geht es bei Sandfield wenig betriebsam zu. AIDS ist ein langsames Thema, eines, das keine schnellen Entscheidungen erfordert, sondern Ruhe und ein offenes Ohr.
»Mein Büro ist ein stiller Ort«, sagt Sandfield. Sein Telefon klingelt in letzter Zeit nur noch selten. »Etwa zweimal pro Woche, und das ist gut so.« Er sieht es als Indiz dafür, dass Juden, die HIV-infiziert sind, heute kaum mehr die Unterstützung einer speziell jüdischen AIDS-Hilfeeinrichtung brauchen. Anders als noch vor zehn, 15 Jahren sind sie in vielen Gemeinden inzwischen akzeptiert und gut aufgehoben, und auch die Medizin hat Fortschritte gemacht. »Was früher eine Tragödie war, ist heute oft nur noch ein medizinischer Fall, aber ein kontrollierbarer«, sagt Sandfield.
Gemeinsam mit zwei Sozialarbeiterinnen und einem Rabbiner hat er 1993 das Jewish AIDS Network gegründet. Zuvor beschäftigten sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Chicagos um die zehn Gruppen mit HIV-Infizierten. Diese Gruppen zusammenzuschließen, war Sandfields Anliegen. Sie mieteten ein Büro, beantragten einen Telefonanschluss, und los ging’s. Groß war damals die Palette ihres Angebots: Sie kümmerten sich um AIDS-Kranke und HIV-Infizierte, besuchten sie im Krankenhaus oder zu Hause, vermittelten Kontakte zu Rabbinern, berieten am Telefon, unterstützten die Familien der Betroffenen, hielten Seminare und Workshops für Rabbiner, Kantoren und Jugendleiter. Sie vermittelten Wissen über Safer Sex, AIDS und den Umgang mit Infizierten. Nicht zuletzt verfassten sie die Broschüre »Jewish Issues by AIDS«, eine Sammlung kurzer Essays zum Selbststudium und zur Diskussion in Gemeindegruppen.
Noch vor 20 Jahren, erinnert sich Sandfield, sei in jüdischen Gemeinden AIDS ein völliges Tabuthema gewesen. »Man ignorierte es einfach – und damit auch diejenigen, die das Virus hatten.«
In manchen orthodoxen Kreisen sei es heute noch so. Unlängst habe ihn eine junge Frau angerufen und ihm von ihrem Bruder erzählt, einem orthodoxen Juden, der kurz zuvor an AIDS gestorben war. Weil die Schwester etwas tun wollte, stellte sie in der Synagoge eine Spendenbüchse für die AIDS-Hilfe auf. Viele seien verschämt daran vorbeigegangen. Ein paar Frauen warfen Geld ein, gingen aber schnell weiter. »Sie hatten das Bedürfnis zu spenden, aber sie wollten nicht, dass man es sieht.«
Sandfield hat gehört, dass in Europa noch heute viele Juden ihre HIV-Infektion aus Angst vor Diskriminierung in der Gemeinde verschweigen und manche deshalb sehr einsam sind. »Mutter Natur ist problematisch genug, aber Ignoranz und Verleugnung machen es noch schwerer«, hat Sandfield in den vergangenen Jahren vielen Be- troffenen am Telefon gesagt. Und so manchem Gemeindeleiter musste er deutlich ins Gewissen reden: »Wir Juden haben eine besondere Verantwortung für unsere Nächsten. Die hört vor AIDS nicht auf.«
Im Oktober 1996 organisierte Sandfield gemeinsam mit Rabbiner Rafael Goldstein, dem früheren Direktor des Jewish AIDS Service Los Angeles, eine internationale Jewish AIDS Network Conference. Sie fand in Washington statt und wurde von mehr als 60 Teilnehmern aus den USA, England, Kanada und den Niederlanden besucht. Etliche Referenten sprachen über soziale und religiöse Fragen zum Thema AIDS. Ein Jahr zuvor hatte Goldstein den Ratgeber 54 Ways You Can Help People Living with AIDS veröffentlicht, der den Weg in viele Gemeinden fand.
Norman Sandfields Aufgabe als Volontär des Networks umfasst heute gerade mal eine Arbeitsstunde im Monat. Er hat nur noch einen Klienten, einen AIDS-kranken Mann. Ansonsten rufen gelegentlich Sozialarbeiter örtlicher AIDS-Hilfe-Einrichtungen an, die eine »jüdische Frage« haben, sowie Angehörige von Betroffenen. Vor drei Wochen suchten ein Mann und eine Frau, deren Sohn an AIDS gestorben war, das Gespräch mit Sandfield. »Oft sind heute die Eltern die Isolierten«, ist ihm aufgefallen, »vor allem die Eltern von schwulen Männern.«
Seit einigen Jahren bemerkt Sandfield, dass das Interesse an seiner Einrichtung abnimmt. Er erinnert sich an eine religiöse Abendveranstaltung, zu der tatsächlich niemand mehr kam. Diesen Tag sieht er als Wegmarke: Das Jewish AIDS Network hat sich selbst überflüssig gemacht. Jahrelang haben die Aktivisten darum gekämpft, dass die Klienten in ihren Gemeinden respektiert werden. Sandfield weiß, dass viele Rabbiner inzwischen offener für das Thema AIDS geworden sind, und in vielen Gemeinden muss heute kein Infizierter mehr Angst davor haben, diskriminiert zu werden. »Braucht es einen größeren Beweis für unseren Erfolg?«

Terror

Hamas übergibt erneut Leichen an Rotes Kreuz

Die Hamas hat dem Roten Kreuz erneut Leichen übergeben. Ob es sich bei den sterblichen Überresten in drei Särgen wirklich um Geiseln handelt, soll nun ein forensisches Institut klären

 02.11.2025

Augsburg

Josef Schuster und Markus Söder bei Jubiläumsfeier von jüdischem Museum

Eines der ältesten jüdischen Museen in Deutschland feiert in diesem Jahr 40-jähriges Bestehen. Das Jüdische Museum Augsburg Schwaben erinnert mit einer Ausstellung an frühere Projekte und künftige Vorhaben

 29.10.2025

Interview

»Wir sind für alle Soldaten da«

Shlomo Afanasev ist Brandenburgs erster orthodoxer Militärrabbiner. Am Dienstag wurde er offiziell ordiniert

von Helmut Kuhn  29.10.2025

Bayern

Charlotte Knobloch kritisiert Preisverleihung an Imam

Die Thomas-Dehler-Stiftung will den Imam Benjamin Idriz auszeichnen. Dagegen regt sich nicht nur Widerstand aus der FDP. Auch die 93-jährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens schaltet sich nun ein

von Michael Thaidigsmann  29.10.2025

Jerusalem

Karin Prien in Yad Vashem: »Jedes Mal für mich erschütternd«

Bei ihrer Israel-Reise erinnert die Bildungsministerin an die Millionen Opfer des Holocaust. Der Moment berührt die CDU-Politikerin auch aus einem persönlichen Grund

von Julia Kilian  28.10.2025

Bildungsministerin

Karin Prien reist nach Israel

Die CDU-Ministerin mit jüdischen Wurzeln will an diesem Sonntag nach Israel aufbrechen. Geplant sind Treffen mit dem israelischen Bildungs- und Außenminister

 26.10.2025

München

Paul Lendvai: »Freiheit ist ein Luxusgut«

Mit 96 Jahren blickt der Holocaust-Überlebende auf ein Jahrhundert zwischen Gewalt und Hoffnung zurück. Besorgt zeigt er sich über die Bequemlichkeit der Gegenwart - denn der Kampf »gegen das Böse und Dumme« höre niemals auf

 21.10.2025

Abkommen

»Trump meinte, die Israelis geraten etwas außer Kontrolle«

Die Vermittler Steve Witkoff und Jared Kushner geben im Interview mit »60 Minutes« spannende Einblicke hinter die Kulissen der Diplomatie

von Sabine Brandes  20.10.2025

Washington

Trump droht Hamas mit dem Tod

Die palästinensische Terrororganisation will ihre Herrschaft über Gaza fortsetzen. Nun redet der US-Präsident Klartext

von Anna Ringle  16.10.2025