Michael Goldmann‑Gilead

Der Mann, der Eichmanns Asche ins Meer streute

Noch ein Foto und noch eins und noch eins. Noch eine Umarmung, noch ein »Lehitraot«, »Auf Wiedersehen, Miki« und noch ein letztes Foto. Immer getrieben von der Angst, es könnte wirklich das letzte sein, weil es kein Wiedersehen mehr gibt. Wir leben in Deutschland, Miki in Israel, und jedes Wiedersehen ist in seinem Alter und bei seinem Leben ein Wunder. Seine Geschichte passt in kein Drehbuch. Sie sprengt alle Vorstellungen vom Überleben und ist viel zu viel für ein einziges Leben. Er war 14 Jahre alt, als seine Reise in den eigentlich sicheren Tod begann. Jetzt feiert er seinen 100. Geburtstag. Welch ein Triumph über das Böse! Ein Leben wie ein Albtraum, ein Leben wie ein Wunder.

Er ist nicht einfach ein Zeitzeuge. Er ist ein Jahrhundertzeuge. Er ist unser Freund, um den wir bangen, den wir lieben, mit dem wir lachen und weinen und streiten, seit wir ihn 1995 zum ersten Mal begegneten. Unsere Freundschaft begann in Auschwitz.

Er begleitete eine Jugendgruppe der ZWST, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, zur Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers, und wir drehten darüber eine Dokumentation für die ARD. Die Jugendlichen waren gebannt und erschüttert, hingen an seinen Lippen. Er redete präzise und nachdenklich über das Grauen, beschrieb fast nüchtern wie ein Zeuge vor Gericht von seiner Ankunft in Auschwitz 1943, davon, wie aus dem Jugendlichen Michael Goldmann der Häftling 161135 wurde.

Nicht Rache, aber Gerechtigkeit – und die hat er selbst aktiv herbeigeführt.

Seine warme Stimme, seine ruhige Schilderung halfen ihnen zu begreifen, was viele ihrer eigenen Eltern und Großeltern durchgemacht und worüber zu reden sie nie die Kraft gehabt hatten. Und obwohl er eigentlich nicht gern über sich spricht, beantwortete er geduldig ihre Fragen und dann im Interview unsere, vielleicht auch, weil er erfahren hatte, dass seine Geschichte so unglaublich ist, dass sie ihm nicht geglaubt wurde. Also dosierte er sie sorgfältig.

Satz um Satz, Kassette um Kassette quälte sich alles aus ihm heraus. Am Ende des mehrstündigen Interviews in seinem kleinen Büro in Jerusalem waren wir überwältigt und verstört. Und er selbst war überrascht. Wir weinten gemeinsam, das ganze Team. »Das habe ich noch nie jemandem erzählt«, entfuhr es ihm.

Als wir wenige Monate danach einen eigenen Film über seine unglaubliche Geschichte drehen wollten, war Miki fast ein bisschen erschrocken. »Einen ganzen Film über mich?« Der Mann, der Eichmanns Asche ins Meer streute. Die unglaubliche Geschichte des Michael Gilead wurde 1996 in der ARD ausgestrahlt.

Jetzt erzählte er, wie er mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester 1939 vor den Deutschen erst nach Przemysl floh und wie er dann mit 17 Jahren seine Familie zum letzten Mal sah. Sie wurde im Vernichtungslager Belzec ermordet, nur zwei Brüder überlebten.

Der berüchtigte KZ-Kommandant Josef Schwammberger peitschte ihn fast zu Tode

Er selbst überlebte das Ghetto Przemysl und den berüchtigten KZ-Kommandanten Josef Schwammberger, der ihn buchstäblich fast zu Tode peitschte. Wer 80 Peitschenhiebe überlebte, den ließ er laufen. Miki überlebte. Eines der vielen Wunder in seinem langen Leben, das selbst in Israel die Menschen ungläubig den Kopf schütteln ließ. »Das war der 81. Schlag«, sagt er. Vielleicht spricht er deshalb heute so detailliert, führt Beweis auch gegenüber Menschen, die ihm glauben. Längst nämlich ist Miki Gilead eine Instanz in Israel. Als Mitglied der Kommission für die Ernennung der Gerechten unter den Völkern in der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem entschied er mit, ob jemand einen Baum in der Allee der Gerechten verdient hatte.

Er selbst ist zweifellos ein Held, einer, der nicht Rache, aber Gerechtigkeit verlangt und sie selbst aktiv herbeiführte. Seinen Peiniger aus Przemysl spürte er als Generaldirektor der Jewish Agency in Argentinien auf und brachte ihn 1990 in Deutschland vor Gericht. »Es war klar, dass er mich erschlagen wollte«, sagte er in Anwesenheit seines Peinigers im Gerichtssaal. Schwammberger wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt.
Die Schläge des SS-Oberscharführers Schwammberger hatte Michael Goldmann damals überlebt, aber es schien nur ein kurzer Aufschub des Todes zu sein. Wider alle Wahrscheinlichkeit überlebte er auch Auschwitz nicht nur, sondern stand erneut einem seiner Peiniger im Gerichtssaal gegenüber. Diesmal war es Adolf Eichmann.

Vieles, was wir über Eichmann wissen, haben wir Miki Gilead zu verdanken

Vieles, was wir über Eichmann wissen, haben wir Miki Gilead zu verdanken, der ihn als israelischer Polizeioffizier neun Monate lang im Ajalon-Gefängnis in Ramla bei Haifa verhörte. Tag um Tag. Nur an Schabbat gab es eine Pause, Miki Gilead durfte Pilze sammeln in den nahen Wäldern des Carmel, es war die einzige Ablenkung von einem Marathon aus Horror und Gewalt. Eine psychologische Betreuung war damals nicht vorgesehen.

»Hast du denn nie Rache an ihm nehmen wollen?«, fragten wir ihn. »Nein«, sagte er, zögerte dann einen Moment und gestand fast ein wenig verlegen, dass er doch einmal aus seiner Rolle gefallen sei, am letzten Tag des Verhörs. Der kleine Tisch, der ihn von dem Massenmörder trennte, war staubig. Er forderte Eichmann auf, den Tisch abzuwischen, was dieser eilfertig tat. Den Ärmel seiner Sträflingskluft straffend, wischte er über den Tisch. Nur zwei Ecken blieben staubig. Miki Gilead deutete darauf und sagte: »Da auch noch.« »Natürlich, Herr Polizeioffizier«, erwiderte Eichmann und wischte artig nach.

Miki Gilead aber war nicht nur Polizeioffizier, sondern auch Zeuge des Prozesses, der vor enormen juristischen Hürden stand. Ohne Fritz Bauer, den legendären Generalstaatsanwalt aus Hessen, der dem Gericht in Jerusalem wichtige Akten zuspielte, wäre er womöglich gescheitert. Doch wie konnte die Authentizität dieser Akten nachgewiesen werden? Miki Gilead enthüllte, was bis dahin kaum einer seiner Kollegen wusste. Er entblößte den linken Unterarm mit der Nummer 161135 und zeigte dann auf die Häftlingsliste. Dort stand sein Name und seine Nummer. »Ich kann Zeugnis ablegen.« So wurde der Polizeioffizier und Vernehmer selbst zum Zeugen der Anklage. Am 15. Dezember 1961 wurde Adolf Eichmann zum Tode verurteilt. Allein die Verlesung des Urteils durch Gideon Hausner dauerte vier Tage.

Am 1. Juni 1962 wird Eichmann gehängt. Miki Gilead ist der offizielle Zeuge der Hinrichtung und der Einäscherung.

Als die Asche des Massenmörders aus dem Ofen gekehrt wird, passt sie in ein kleines Gefäß, das nur halb voll wird. »Da habe ich begriffen, wie viele Menschen getötet wurden«, sagte uns Miki und erinnerte sich, wie er als junger Mann im Winter die vereisten Gehwege des KZs mit der Asche der Ermordeten bestreuen musste, damit die SS-Schergen nicht ausrutschten. »Es waren Berge voller Asche, viel größer als ich selbst!«

Eichmann sollte kein Grab haben, und so erhielt Miki Gilead einen letzten Auftrag. Er sollte die Asche des Massenmörders weit vor Tel Aviv im Mittelmeer verstreuen. Dabei wehten ihm auf hoher See Aschereste in die Augen. Erst dieser Schmerz ließ ihn begreifen, dass es vorbei war.

Nie hat er aufgehört, an seine kleine Schwester zu denken, die nicht groß werden durfte

Der Schmerz um den Verlust so vieler Leben aber ist geblieben. Nie hat er aufgehört, an seine kleine Schwester zu denken, die nicht groß werden durfte. Sie war wehrlos ihren Mördern ausgeliefert. Nie wieder wehrlos sein, nie auf Hilfe von außen vertrauen müssen, das ist zur Maxime seines Lebens geworden. Wir haben leidenschaftlich darüber diskutiert, wie das Überleben des jüdischen Staates gesichert und zugleich eine gerechte Lösung für die palästinensische Bevölkerung gefunden werden kann. Räumung der Siedlungen, Zweistaatenlösung.

»Nein«, sagte Miki, dieser sanfte, freundliche Mann dann stets und nahm uns fast väterlich an die Hand: »Eines versteht ihr nicht: Unsere Gegner wollen keinen Frieden. Das Einzige, was sie wollen, ist, uns zu vernichten. Es geht nicht um Grenzen. Sie wollen uns einfach hier nicht. Nirgendwo wollen sie uns.« Der Respekt vor einem Leben wie seinem ließ uns verstummen. Und dann kam der 7. Oktober 2023, der ihm auf so furchtbare Weise recht zu geben scheint.

Einmal mehr erlebt dieser große kleine Mann, wie Gewalt und Krieg ihn einholen. In seiner Nachbarschaft schlugen Raketen ein, aber Miki und seine wunderbare Frau Eva haben überlebt. Wieder einmal. Diese Woche feiern wir nun seinen 100. Geburtstag. Und wir hoffen: Es wird nicht der letzte sein. Mazal Tov, Miki – bis 120!

New York

Ronald Lauder ruft Juden zu Zusammenhalt auf

Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses warnt vor Spaltung der Gemeinschaft und appelliert zu Rosch Haschana an die Einheit aller Juden weltweit

von Imanuel Marcus  22.09.2025

Frankreich

Umfrage: Mehrheit gegen sofortige Anerkennung Palästinas

Laut einer repräsentativen Befragung unterstützt nur ein Drittel der Franzosen das Vorgehen von Präsident Emmanuel Macron, der kommende Woche einen »Staat Palästina« anerkennen will

 19.09.2025

Großbritannien

Der grüne Populist

Zack Polanski ist der neue Chef der Grünen. Möglicher Partner: ausgerechnet Jeremy Corbyn

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  18.09.2025

Belgien

Grabschändung am Todestag

Das Grab des jüdischen Politikers Jean Gol in Lüttich wurde genau 30 Jahre nach seinem Tod geschändet. Gols Tochter sieht einen eindeutigen Zusammenhang zum Nahostkonflikt

 18.09.2025

USA

Angriff auf Cousin einer ermordeten Geisel

Ariel Yaakov Marciano wurde in Santa Monica angegriffen und geschlagen, weil er Hebräisch sprach

 17.09.2025

Belgien

Gent bleibt hart: Lahav Shani bei Festival weiter unerwünscht

Nach massiver Kritik befasste sich der Verwaltungsrat des Musikfestivals am Montagabend erneut mit der Ausladung der Münchner Philharmoniker. Es blieb bei der Ausladung

von Michael Thaidigsmann  16.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  16.09.2025 Aktualisiert

Kommentar

Das Geraune von der jüdischen Lobby

Der Zürcher »Tages-Anzeiger« befasst sich kritisch mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, der die Absage einer Veranstaltung mit Francesca Albanese an der Uni Bern gefordert hatte. Dabei war diese Intervention richtig

von Michael Thaidigsmann  15.09.2025

Argentinien

Raubkunst in der Immobilienanzeige

Die Tochter eines Naziverbrechers wollte ihre Villa verkaufen und führte Ermittler auf die Spur einer gestohlenen Kunstsammlung

von Andreas Knobloch  13.09.2025