Nordirak

Kurden gegen Kalifat

Die folgende Reportage entstand vor der Zuspitzung der Lage im Irak am vergangenen Wochenende. (Anm. der Redaktion)

Die improvisierte Oase im Herzen der nordirakischen Wüste heißt Al-Raser. Hunderte von blau-weißen Zelten der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR stehen ordentlich aufgereiht im Sand, um Tausende von fliehenden Zivilisten aus den von der IS-Miliz eroberten Zonen in der näheren Umgebung zu empfangen.

Die meisten kommen aus der Stadt Mossul, die nur 30 Minuten Autofahrt vom Lager entfernt ist. Von der kurvenreichen Straße, die zum Flüchtlingslager führt, kann man die Flammen der Raffinerien am Rande dieser zweitgrößten Stadt des Irak sehen, die seit Mitte Juni unter Kontrolle der radikal-sunnitischen islamistischen Gruppe IS gefallen ist. IS steht für »Islamischer Staat«, wie sich die radikalsunnitische Terrorgruppe seit Ende Juni nennt; bekannt und berüchtigt wurde sie unter ihrem vorherigen Kürzel ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien).

horrorvideos Mossul mit seinen zwei Millionen Einwohnern wurde von IS und ihren sunnitischen Verbündeten fast mühelos zu Beginn einer Militäroffensive erobert, die inzwischen den ganzen Nahen und Mittleren Osten erschüttert. Nach dem Fall der Stadt hat IS in einer für alle Beobachter frappierenden Geschwindigkeit ihr Territorium erweitert. Nach Süden Richtung Bagdad und im Westen zu den Grenzen mit Syrien und Jordanien. Vor Kurzem hat IS die Errichtung eines islamischen Kalifats dekretiert, das in der gesamten Levante herrschen soll, wie einst im 7. Jahrhundert. Damit, so die Islamisten, ist das Sykes-Picot-Abkommen tot, mit dem Frankreich und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg die staatlichen Grenzen im Nahen und Mittleren Osten festgelegt hatten.

Der Name IS weckt in der Region Angst und Schrecken. Videos brutaler Massentötungen, Enthauptungen und Kreuzigungen
kursieren seit Monaten im Internet. Die Furcht ist die effektivste Waffe der sunnitischen Islamisten.

»Wollen Sie wissen, wie eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern und einer signifikanten Präsenz der Regierungsarmee durch eine Bande von mehreren Hundert Kriegern, die kaum richtig schießen können, eingenommen werden konnte?«, fragt mich ein Dozent der Salahaddin-Universität im kurdischen Erbil und erzählt, wie ein Außenposten der irakischen Armee in Mossul von IS erobert wurde. »Ein Fahrzeug der Miliz mit zwei oder drei Kämpfern fuhr auf einen Hügel mit Blick auf die Stellung.

Die IS-Kämpfer signalisierten mit ihren Scheinwerfern, dass sie die Soldaten sprechen wollten. Der kommandierende Offizier schickte einen seiner Männer. Der kehrte ein paar Minuten später zurück und sagte, dass IS die sofortige Evakuierung der Stellung unter Hinterlassen aller Waffen fordere. ›Wir haben zehn Minuten, das zu tun, was sie sagen, sonst werden sie kommen und uns köpfen‹. Der irakische Offizier befahl daraufhin seinen Männern, sofort zu fliehen. Und so brach eine Armee, in deren Aufbau, Bewaffnung und Ausbildung Milliarden von Dollar investiert wurden, vor einer Bande kleiner Terroristen zusammen.«

Die Glaubwürdigkeit solcher Geschichten kann man nicht überprüfen. Sie zeigen aber die im Irak herrschende Stimmung. Allgemein herrscht der Eindruck, dass die schwachen und korrupten staatlichen Institutionen zerbröseln wie Staub. Der Fall von Mossul hat bei der nichtsunnitischen Bevölkerung – Schiiten, Christen und Kurden – ein regelrechtes Trauma bewirkt. Man spricht von »Naksa«, ein Begriff, der bisher nur für die beschämende arabische Niederlage gegen die israelische Armee im Sechs-Tage-Krieg 1967 gängig war.

saddam-nostalgie Sandsäulen tanzen um das Flüchtlingslager. Ein heißer, trockener Wind verstärkt die unerträgliche Sommerhitze. Die Temperatur erreicht fast 45 Grad. Die Lagerbewohner verstecken sich vor der Hitze in den breiten Zelten, wo Schatten und elektrische Ventilatoren für etwas Kühlung sorgen.

»Seit Jahrzehnten kennt der Irak nur Krieg«, klagt Khaled. Er ist über 70 Jahre alt, seine Haare und sein kurzer Bart sind weiß. In den dünnen Fingern hält er eine Zigarette. Hinter ihm köchelt auf einem kleinen Gaskocher ein Teetopf. »Wir haben Kriege gegen Khomeini und Bush geführt. Jetzt sind wir fertig. Zerstört. Es gibt keine Lösung. »

In einem der Zelte sitzt Faiza auf einer großen Decke, zusammen mit Verwandten, die aus Mossul beim Ausbruch der Kämpfe zwischen den sunnitischen Milizen und der Armee geflohen sind. »Wir sind hier in der Hölle«, sagt die 50-Jährige. »Ohne Luft zu atmen. Fast ohne Essen. Die Menschen haben kein Geld. Sie berauben sich gegenseitig.« Faiza, eine Sunnitin, gibt der Regierung die Schuld an der Misere, genauer, dem Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki.

Ich war nach Al-Raser mit der Erwartung gekommen, Horrorgeschichten über IS zu hören. Doch die Wut der Flüchtlinge hier richtet sich gegen den Mann, der hier als »iranischer Agent« oder »schiitischer Diktator« bezeichnet wird: Nuri Al-Maliki, seit acht Jahren Regierungschef des Irak.

Rami ist mit seiner Familie aus der Stadt Tel Afar nahe der syrischen Grenze geflohen. Die Einwohner Tel Afars sind meist Sunniten turkmenischer Herkunft. »Seit zehn Jahren leben die Menschen in unseren Regionen in absoluter Armut«, klagt Rami. »Denen in Bagdad ist das Wurst. Al-Malikis Regierung hat uns bombardiert. IS war gut zu uns.« Wie viele im Lager trauert Rami Saddam Hussein nach. »Saddam war ein großer Mann. Unter ihm gab es Sicherheit. Jetzt ist Irak kaputt.«

Aufbruchstimmung Al-Raser liegt im Kurdengebiet. Ich frage meine kurdischen Gesprächspartner, ob es sie nicht stört, dass ihre Gäste den Mann loben, der Tausende Kurden mit biologischen Waffen ermordet hat. Mahmud Haji Salih, Minister der Regionalregierung, hat eine Erklärung für die Saddam-Nostalgie. »Die Brutalität dieses Regimes hat nicht nur Ablehnung und Ekel provoziert, sondern bei bestimmten Schichten der irakischen Bevölkerung auch starke Bewunderung.« Daher, so Salih, auch die Unterstützung für IS. »IS bekommt finanzielle und militärische Hilfe nicht nur aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, sondern auch von den Überresten der Baath-Partei, die die Demokratisierung des Irak untergraben wollen.«

Den »tiefen Staat« nennen die Iraker eine Geheimorganisation von Loyalisten des ehemaligen Regimes, die an der Wiederherstellung der sunnitischen Macht in Bagdad arbeiten. Der vermutliche Kopf dieses Netzwerks ist Izzat Ibrahim A-Duri, ehemaliger Stellvertreter Saddam Husseins, der vor sieben Jahren die Führung der »Neuen Baath-Partei« übernommen hat. Der 71-jährige Militär wird von vielen als der eigentliche Stratege hinter IS vermutet. Er führt nicht nur Krieg gegen die Schiiten; sein Ziel ist es auch, die kurdische Autonomie mit ihren inzwischen quasi-staatlichen Strukturen zu liquidieren.

Doch auf den Straßen von Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, spürt man kaum etwas von der Spannung, die sonst im ganzen Irak herrscht. Die ruhige und wirtschaftlich boomende Stadt mit ihren rund 800.000 Einwohnern scheint auf einem anderen Planeten als der Rest des Landes zu liegen. Moderne Hochhäuser, große Einkaufszentren, schicke Restaurants und Cafés werden überall gebaut und eröffnet. Luxusautos fahren durch breite Alleen, die mit Wasserfontänen, Bäumen und Blumen dekoriert sind.

israel Die Offensive von IS hat viele Kurden darin bestärkt, jetzt Schritte in Richtung eines eigenen Staats zu unternehmen. Dazu gehört auch, dass sie Öl aus ihrem autonomen Territorium nach Israel exportieren. Die Reaktion aus Bagdad, wo ein Boykott des jüdischen Staates offizielle Regierungspolitik ist, kam rasch: »Die Kurden werden dafür bezahlen, dass sie Öl an Israel geliefert haben«, ließ das Ölministerium verlauten. Als Strafmaßnahme fror die Regierung Al-Maliki die Gehälter der Beamten in allen Gebieten außerhalb ihrer Kontrolle ein.

»Das ist genau der Stil, den wir nicht mehr hören oder sehen möchten«, sagt ein Regierungsbeamter in Erbil. »Die Tage, als Bagdad in der Lage war, uns zu sagen, was wir zu tun haben oder nicht, sind vorbei. Wir tun, was wir wollen, und das schließt offene Kontakte mit Israel ein.«

Die irakischen Kurden machen kein Hehl daraus, dass sie die Kontakte zu Israel in allen Bereichen ausbauen wollen, um ihren zukünftigen Staat zu entwickeln. »Wir können viel von den Israelis lernen«, meint ein führender Wissenschaftler. »Als ich in der Grundschule war, hat man uns auf die Straße geschickt, um mit den Parolen ›Palästina ist arabisch‹ und ›Weg mit dem Zionismus‹ zu demonstrieren. Es war absurd. Wir brauchen Beziehungen mit Israel. Wir haben große landwirtschaftliche Flächen, aber wir wissen nicht, was wir damit machen können. Das Know-how der Israelis könnte bei uns Wunder wirken.«

Den Kurden ist allerdings bewusst, dass die Zeit für ihre Unabhängigkeit noch nicht reif ist. Momentan hat der Kampf gegen IS Priorität. In Erbil stellt man sich darauf ein, dass der irakische Bürgerkrieg noch lange Zeit andauern und auch kurdisches Territorium erreichen kann. »Hier findet ein Pokerspiel statt«, schätzt ein kurdischer Intellektueller, den ich in der Lobby eines neuen modernen Hotels in Erbil treffe, die Lage ein. Nur eines scheint klar: »Der Irak wird nie mehr das sein, was er einmal war.«

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