Polen

Machlojkes in Warschau

Polens Regierung hat ein ernstes Problem: Das Schächtverbot, mit dem das Parlament im Juli die Religionsfreiheit der Juden und Muslime im Land erheblich einschränkte, will nicht von der Tagesordnung weichen. »Wir sind doch keine Antisemiten!«, verteidigen sich die Politiker.

Doch wie ein Bumerang kehrt der Vorwurf zurück. Premier, Präsident und Außenminister werden von Diplomaten und ausländischen Politikern gefragt: »Warum lassen Sie es zu, dass in Ihrem Land Juden und Muslime diskriminiert werden?« Jetzt soll das Verfassungsgericht über das Schächtverbot entscheiden.

vorwürfe Doch nicht nur Polens Politiker werden angegriffen, auch die Juden im Land müssen sich harte Vorwürfe gefallen lassen. Angeblich hätten Polens Oberrabbiner Michael Schudrich (58) und der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindebundes, Piotr Kadlcik (50), Hilfsangebote jüdischer Organisationen aus dem Ausland abgelehnt und allein versucht, die Parlamentarier vor der entscheidenden Abstimmung über das koschere Schlachten zu informieren. Damit seien sie gescheitert, wirft ihnen der aus Israel stammende und seit einigen Jahren in Belgien lebende Rabbiner Menachem Margolin (30) vor.

Unter großem Mediengetöse forderte er kürzlich Oberrabbiner Schudrich gar zum Rücktritt auf. Dieser hätte »aus egoistischen Gründen die Anstrengungen jüdischer Gruppen aus dem Ausland blockiert, da er der Einzige sein wollte, der mit dem Thema befasst« ist, erklärte Margolin. Schudrich hätte gar dafür gesorgt, dass ein geplantes Treffen zwischen ihm, der von ihm geleiteten European Jewish Association (EJA) und dem polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski (61) wieder abgesagt wurde.

Schudrich weist die Vorwürfe zurück. »Wir, die jüdische Gemeinde in Polen, Piotr Kadlcik und ich, arbeiten eng mit einem ganzen Spektrum von bedeutenden jüdischen Organisationen in Europa und der Welt zusammen«, erklärt er im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Dazu gehören die Conference of European Rabbis, der European Jewish Congress, der World Jewish Congress und andere Organisationen.«

Der Amerikaner, der auch die polnische Staatsbürgerschaft besitzt, seufzt. »Ein innerjüdischer Streit hat uns gerade noch gefehlt!« Es sei kontraproduktiv, wenn ausländische Organisationen in Polen zu agitieren begännen, ohne sich mit den jüdischen Gemeinden im Land abzustimmen. »Wir alle haben das gleiche Ziel und sollten daher zusammenarbeiten«, so Schudrich.

Schlagabtausch Der Schlagabtausch der beiden Rabbiner fand auch Widerhall in polnischen Medien. In den jüdischen Gemeinden begann es daraufhin zu rumoren: »Niemand von uns hatte je den Namen Menachem Margolin gehört«, sagt Bella Szwarcman (68), Redakteurin der jüdischen Kulturzeitschrift Midrasz und Mitglied der Jüdischen Gemeinde Warschau. »Die EJA, deren Direktor Margolin ist, kann man nicht einmal im Internet finden. Sie hat keine eigene Website.«

Erst als polnische Medien berichteten, dass die EJA den Anwalt Roman Giertych engagiert habe, um das Tierschutzgesetz vors Verfassungsgericht zu bringen, begannen einige Gemeindemitglieder mit der systematischen Suche nach zusätzlichen Informationen.

Denn Giertych ist in Polen kein Unbekannter. Schon als junger Mann trat er in die Fußstapfen seiner Vorfahren. Mitglieder der einst von ihm geleiteten Allpolnischen Jugend oder auch der Liga der polnischen Familien zeigten beim Lagerfeuer oder am Stammtisch schon mal den Hitlergruß. Als Giertych es vor einigen Jahren bis zum Bildungsminister und Vize-Premier schaffte, weigerte sich Israels damaliger Botschafter in Polen, David Peleg, ihm bei offiziellen Anlässen die Hand zu geben. Obwohl sich Giertych vor einigen Jahren aus der Politik zurückzog, angeblich einen Wandel durchmachte und nun behauptet, niemals Nationalist gewesen zu sein, wundern sich viele darüber, dass Juden aus dem Ausland ihn jetzt engagieren.

»Ich denke nicht, dass wir allzu wählerisch sein sollten, wenn es darum geht, jemanden zu finden, der uns helfen kann«, sagte Margolin, der sich der Philosophie des Lubawitscher Rebben verbunden fühlt, im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Man habe im Laufe der Geschichte immer wieder »mit den schrecklichsten Menschen in der Welt sprechen müssen, um die Lösung für ein Problem zu finden«. Er fügte hinzu: »Roman Giertych ist ein sehr wichtiger Anwalt in Polen. Er vertritt derzeit den polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski, dessen Frau Jüdin ist.«

Als Rabbiner Margolin und eine kleine Delegation des ebenfalls von ihm geleiteten Rabbinical Centre of Europe (RCE) vergangene Woche Sikorski in Warschau besuchten, um gegen das Schächtverbot zu protestieren, war zwar Anwalt Giertych zugegen, nicht aber Polens Oberrabbiner Michael Schudrich. »Wir haben ihn nicht eingeladen«, erklärt Margolin knapp. »Da er in der Vergangenheit alle unsere Vorschläge zur Zusammenarbeit zurückgewiesen hatte, mussten wir befürchten, dass er den Außenminister bitten würde, das Treffen mit uns abzusagen.«

emissäre Derweil wundert sich der Präsident der Conference of European Rabbis in Brüssel, Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt (50), über die Vorwürfe gegen Schudrich: »Ich glaube, dass die Kritik an der polnisch-jüdischen Führung in dieser schwierigen Situation nicht angebracht ist«, sagte er dieser Zeitung. Ich kenne Herrn Margolin sehr gut.

Er ist ein junger, sehr energischer Rabbiner. Ich fände es allerdings besser, wenn er seine jugendliche Energie einsetzen würde, um die Lage in Polen zu beeinflussen – ohne mit den polnisch-jüdischen Organisationen zu streiten.« Das von Margolin geleitete RCE sei eine Organisation, »die zu 95 Prozent Chabad-Lubawitsch-Emissäre repräsentiert und auch von Chabad-Leuten geführt wird«, so Goldschmidt.

Die Conference of European Rabbis hingegen, der Pinchas Goldschmidt vorsteht, sei die Organisation der offiziellen Rabbiner der jüdischen Gemeinden Europas. Mitglieder sind beispielsweise die Oberrabbiner von England und Frankreich, auch der Oberrabbiner von Polen, die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland und viele andere.

»Wir unterstützen den Jüdischen Gemeindebund Polens mit seinem Vorsitzenden Piotr Kadlcik und seinem Oberrabbiner Michael Schudrich«, sagt Goldschmidt. »Wir sind in Kontakt mit den großen jüdischen amerikanischen Organisationen, dem World Jewish Congress, und auch mit religiösen Organisationen wie dem Rabbinical Council of America und beraten, wie weit wir die Lage in Polen beeinflussen möchten und können.«

Hilfe Erstaunt über die Vorwürfe gegenüber Schudrich ist auch Philipp Carmel, Sprecher des European Jewish Congress. »Wir unterstützen die Jüdische Gemeinde Polens in jeder Hinsicht, so Carmel gegenüber der Jüdischen Allgemeinen. »Piotr Kadlcik und Rabbiner Schudrich sind in regelmäßigem und ständigem Kontakt mit den großen europäischen internationalen und amerikanischen jüdischen Organisationen. Und sie bekommen jede Hilfe, die sie sich nur wünschen.«

Auch Polens Staatspräsident Bronislaw Komorowski sowie der Primas der katholischen Kirche, Erzbischof Józef Kowalczyk, haben sich inzwischen mit Schudrich getroffen. Beide wollen sich dafür einsetzen, dass die Religionsfreiheit im Land wieder ihren in der Verfassung verankerten Rang zurückerhält. »Für unsere Gemeinde ist es wichtig, Präsident und Primas auf unserer Seite zu wissen«, sagte Schudrich der Jüdischen Allgemeinen.

»Die Garantie der Religionsfreiheit ist ein hohes Gut der polnischen Demokratie. Die Parlamentarier haben diese Freiheit für Juden und Muslime eingeschränkt, vielleicht unbewusst. Wir hoffen, dass auch die Verfassungsrichter so denken wie der Primas und der Präsident und die Religionsfreiheit wieder zu einem unantastbaren Menschenrecht erklären.«

Jom Haschoa

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