Porträt der Woche

Zwischen den Welten

»Meine fröhliche Kindheit in Argentinien endete abrupt, als Adolf Eichmann entführt wurde«: Ruth Peiser (73) aus Berlin Foto: Chris Hartung

Porträt der Woche

Zwischen den Welten

Ruth Peiser aus Berlin war Goldschmiedin, arbeitete bei einer Airline und jobbt nun in einer Boutique

von Gerhard Haase-Hindenberg  15.06.2025 09:26 Uhr


Vor einiger Zeit habe ich angefangen, in der Boutique einer Berliner Modedesignerin zu arbeiten. Ich wollte auch in meinem Alter noch etwas Sinnvolles tun und nicht nur zu Hause herumsitzen. Obgleich ich auch dort viel zu tun habe. Schließlich habe ich ein großes Haus mit Garten. Aber ich bin nun einmal gern mit Menschen zusammen. Da entdeckte ich diese Modeboutique in Steglitz im Süden von Berlin, an der angeschlagen war, dass man jemanden für den Verkauf sucht.

Ich war schon immer ein spontaner Mensch, also bin ich hineingegangen und habe mich beworben. Mode mochte ich von jeher gern, da ich in einem sozialen Umfeld aufgewachsen bin, in dem auf das Image geachtet wurde. Außerdem passt dieses Interesse zu meinem erlernten Beruf als Goldschmiedin.

Geboren bin ich in Mendoza

Geboren bin ich in Mendoza, das ist in Argentinien. Dort verbrachte ich eine sehr schöne Kindheit mit meinen Eltern und einer älteren Schwester, die leider nicht mehr lebt. Es war eine Kindheit zwischen zwei Welten. Meine Mutter war Argentinierin mit italienischen, englischen, spanisch-sefardischen Wurzeln und sogar von argentinischen Ureinwohnern. Mein Vater stammt aus Hamburg und war 1938 ins Land gekommen.

So wuchs ich also unter dem Einfluss von argentinischer und deutscher Kultur auf. Meine Großeltern väterlicherseits waren Kohanim und lebten sehr traditionell. Oft sprachen sie mit mir Deutsch und sangen meiner Schwester und mir auch deutsche Kinderlieder vor. Ansonsten aber sprachen wir Mädchen natürlich überwiegend Spanisch. Ich erinnere mich, dass wir nie auf der Straße spielten, sondern immer von anderen Kindern eingeladen wurden oder sie zu uns einluden.

Manchmal gingen wir in den jüdischen Klub, der in einer Finca untergebracht war und wo man auch schwimmen konnte. Als Anfang der 60er-Jahre in Mendoza die jüdische Schule gegründet wurde, gehörte ich zu den ersten Schülerinnen. Viele meiner Freunde von damals habe ich in letzter Zeit nach fast 60 Jahren über Facebook wiedergefunden. Manche leben noch in Argentinien, etliche aber auch in Israel.

Die fröhliche jüdische Kindheit in Mendoza endete schlagartig, nachdem Adolf Eichmann entführt und in Israel vor Gericht gestellt wurde.
Eines Morgens kam der Schulbus, um mich und die anderen Kinder abzuholen, und der Bus sah völlig demoliert aus. Die Fenster waren eingeschlagen und die Davidsterne mit Hakenkreuzen beschmiert. Als ich den Bus betrat, sah ich, dass alle Sitzbänke aufgeschlitzt worden waren.

Unsere Eltern haben einen Wachdienst organisiert

Daraufhin haben unsere Eltern einen Wachdienst organisiert und sich vor die Schule gestellt, um uns Kinder zu beschützen. Wir hörten davon, dass es auf die jüdische Schule in Buenos Aires ebenfalls Anschläge gegeben hatte und sogar zwei Mädchen ums Leben gekommen waren. Mein Vater erklärte uns schließlich, dass meine Schwester und ich mit unserer Großmutter nach Israel gehen müssten. Da war ich zehn Jahre alt. Meine Mutter und er aber blieben zunächst in Argentinien, um das Juweliergeschäft aufzulösen und das Haus zu verkaufen.

Als sich der Jom-Kippur-Krieg ereignete, packte ich die Koffer, um Israel zu helfen.

Es war schwer, mich von meinen anderen Großeltern zu verabschieden. Andererseits freute ich mich, meinen Onkel wiederzusehen, der bereits in Israel wohnte. Wir kamen nach Sde Eliyahu, einen religiösen Kibbuz, den mein Onkel einst mitbegründet hat. Hier ging ich zur Schule, auch wenn es einige Zeit dauerte, bis ich ausreichend Iwrit sprach, um dem Unterricht folgen zu können. Nach einer Weile kamen auch meine Eltern in diesen Kibbuz, obgleich mein Vater zwar traditionell, aber überhaupt nicht religiös eingestellt war.

Nach längerem Überlegen hat er sich entschlossen, in seine Geburtsstadt Hamburg zurückzukehren. So kam ich als Zwölfjährige nach Deutschland und besuchte wieder einmal eine Schule, in der ich zunächst kein Wort verstand. Zu Hause in unserer Familie wurde weiterhin Spanisch gesprochen. In der Hamburger Gemeinde überwog hingegen Farsi, denn es lebten damals in Hamburg sehr viele persische Juden, die im Teppichhandel tätig waren. Wieder einige Jahre später zog meine Familie nach Berlin, wo ich die Schule mit der Mittleren Reife beendete.

Von meinem Vater habe ich das handwerkliche Talent geerbt, aber auch die Liebe zum Schmuck, womit er ja in Mendoza gehandelt hatte. Da lag es nahe, eine Lehre zur Goldschmiedin zu machen. Schon damals war ich in der Berliner Gemeinde gut integriert. An den Wochenenden nach dem Gottesdienst am Freitagabend traf ich mich mit anderen jüdischen Jugendlichen, und wir machten Highlife. Dann ereignete sich im Oktober 1973 der Jom-Kippur-Krieg.

Um die technische Wartung der Maschinen habe ich mich gekümmert

Das war plötzlich auch unter uns ein wichtiges Thema. Ich aber wollte nicht nur darüber reden, sondern habe meinen Koffer gepackt, um Israel zu helfen. Mein Onkel wollte, dass ich wieder nach Sde Eliyahu komme, das lehnte ich jedoch ab. So religiös wie die Leute dort war ich nicht, und so kam ich nach Ashdot Yaakov, einen Kibbuz, wo es eine Fabrik für Plastikflaschen gab. Da kam mir einmal wieder mein handwerkliches Talent zugute, und ich habe mich um die technische Wartung der Maschinen gekümmert.

Nach zwei Jahren musste ich mich entscheiden, entweder in Israel zu bleiben oder nach Deutschland zurückzukehren. Nun war ich in einem Alter, in welchem man daran denkt, zu heiraten. Wo würden meine Kinder aufwachsen? Ich flog nach Deutschland, um erst einmal wieder bei meiner Familie zu sein.

Nach zwei Jahren musste ich mich entscheiden, entweder in Israel zu bleiben oder nach Deutschland zurückzukehren.

Außerdem hatte ich gehört, dass mein langjähriger Freund Aaron, der heute mein Mann ist, einen Unfall hatte. Er war Segelflieger und Fallschirmspringer, und da ist es passiert. Den wollte ich besuchen. Schließlich könne ich ja immer noch Alija machen, sagte ich mir. Aaron arbeitete am Berliner Flughafen als Flugzeugingenieur. Durch seine Vermittlung bekam ich eine Anstellung bei der britischen Airline Dan Air. Meine Tätigkeit reichte vom Check-in bis zur Erstellung der Routenpläne für die Flugkapitäne – und das passierte damals alles noch ohne Computer.

Wenn wir Urlaub hatten, sind wir um die ganze Welt geflogen

Im Jahr 1976 führte meine Firma den ersten Direktflug von Berlin nach Tel Aviv durch. Weil ich Iwrit sprach, durfte ich bei diesem Flug zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz dabei sein. Fortan machte ich für diese Flüge an jedem Sonntag unter starkem Polizeischutz den Check-in und brachte anschließend die Passagiere zur Maschine. Im Jahr 1978 haben dann Aaron und ich geheiratet.

Wenn wir Urlaub hatten, sind wir um die ganze Welt geflogen, bis unser Sohn Daniel geboren wurde. Nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung verloren die vormals alliierten Luftfahrtgesellschaften die Lizenz, innerhalb Deutschlands zu fliegen. Man bot uns an, an einem der internationalen Flughäfen zu arbeiten, und wir entschieden uns für Düsseldorf. Unseren Wohnsitz verlegten wir ins nahe gelegene Korschenbroich. Da dieser Ort aber noch näher an Mönchengladbach liegt, haben wir uns dort bei der Gemeinde gemeldet.

Das war in der Zeit, als viele sowjetische Juden nach Deutschland kamen. Auf die jüdischen Gemeinden kamen große Belastungen zu, und wir halfen, wo wir konnten. So unterrichtete ich zum Beispiel die russischen Frauen in Religion und Traditionen des Judentums, und das mit Händen und Füßen, da ich kein Russisch konnte. Aber es ging irgendwie, und am Freitagabend habe ich immer einen Kiddusch organisiert.

Die Barmizwa meines Sohnes war die erste nach der Schoa in Mönchengladbach

Eines Tages kam der Direktor der Korschenbroicher Schule auf mich zu. Bald ging ich gelegentlich dort in den Unterricht und informierte über das Judentum. Entsetzt musste ich feststellen, dass die Schülerschaft und teilweise auch deren Eltern, Juden für so etwas wie Außerirdische hielten. Zu Daniels Barmizwa hatten wir viele seiner Mitschüler eingeladen, und weil es damals die erste Barmizwa nach der Schoa in Mönchengladbach war, ist sogar der Polizeipräsident vorbeigekommen.

Nachdem Aaron und ich in den Ruhestand gegangen waren, beschlossen wir, wieder in unsere vertraute Gemeinde nach Berlin zurückzukehren. Hinzu kam, dass wir die Kultur in Berlin, also nicht nur die jüdische, genießen wollten. Das tun wir mittlerweile auch. Und weil ich noch immer gern mit Menschen zu tun habe, arbeite ich jetzt in jener Boutique einer Berliner Modedesignerin.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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