Porträt der Woche

»Zuversicht überwiegt bei mir«

Alexander Vexler ist Kameramann und lebt in einem Mehrgenerationenhaus

von Katrin Diehl  26.02.2020 12:48 Uhr

»Ich ruhe mich nie auf irgendetwas aus«: Alexander Vexler (37) aus München Foto: Christian Rudnik

Alexander Vexler ist Kameramann und lebt in einem Mehrgenerationenhaus

von Katrin Diehl  26.02.2020 12:48 Uhr

Ich lebe in so etwas wie einem jüdischen Mikrokosmos. So kann man das nennen: ein jüdischer Mikrokosmos an Münchens Nordwestrand. Dort steht ein Haus mit schönem Garten. In diesem Haus hat meine gesamte Großfamilie ihren Platz gefunden.

Als mein Opa noch lebte, waren das immerhin vier Generationen. Mit uns als Hausbewohnern ist dieses Haus zu einem jüdischen Haus geworden – vom Erdgeschoss bis unters Dach. Unten wohnen meine Eltern, in der Mitte mein Bruder mit Frau und mittlerweile vier Kindern und oben ich mit meiner Frau und meinen zwei Kindern, einem Jungen von neun Jahren und einem Mädchen von einem Jahr und ein paar Monaten.

Der aktuelle Stand unserer jüdischen Befindlichkeit sieht folgendermaßen aus: Mein älterer Bruder und seine Familie sind sehr religiös. Alle Regeln werden strikt eingehalten. Wir im Stock darüber sind nicht so streng. Wir feiern die Feiertage und passen beim Essen auf. Und meine Eltern sehen das noch ein bisschen lockerer.

SCHABBAT Aber als Hausgemeinschaft funktionieren wir hervorragend. Wir kommen super miteinander aus. Zu Schabbat treffen wir uns alle im großen Zimmer, wir singen ein paar Lieder, sprechen Gebete, spüren die Familie.

Und das lässt mich tatsächlich oft mit meinen Gedanken eine Reise antreten, eine Reise in meine Kindheit, in der das Judentum eigentlich noch gar keine Rolle gespielt hat. Und trotzdem war da etwas. Da war etwas, was ich erst jetzt als etwas Jüdisches erkenne.

Und so würde ich auch ganz generell meinen Weg zum Judentum beschreiben: Ich entdecke heute Dinge, die irgendwie schon immer da waren, die mich schon immer ausgemacht haben, und die sich jetzt durch mein Judentum erklären lassen. Dazu gehört zum Beispiel meine positive Lebenseinstellung. Zuversicht überwiegt bei mir.

In unserem jüdischen Haus leben vier Generationen miteinander.

Das Haus steht in einer eher ruhigen Straße. Ob es anderen schon als »anders« aufgefallen ist, weiß ich nicht. Manchmal, wenn ich freitags spät heimkomme – und da wird schon das erste Schabbatlied angestimmt, das dringt dann hinaus, oder im Dezember, wenn in jedem Fenster ein Chanukkaleuchter steht und die Kerzen brennen –, könnte man das schon irgendwie mitkriegen.

Andererseits denke ich, dass die Menschen drum herum das gar nicht zuordnen können. Sie wissen davon zu wenig. Wer weiß schon etwas von uns Juden?

MARATHON Geboren wurde ich 1982 in Moskau. Sonderlich jüdisch war unser Leben wirklich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich dort jemals eine Synagoge betreten habe. Jedenfalls wollten meine Eltern irgendwann weg, vor allem wegen dieses immerwährenden Antisemitismus. Und den haben tatsächlich auch schon wir Kinder zu spüren bekommen. »Jude« galt als Schimpfwort, Lehrer trugen uns falsche Noten ein.

Mein Bruder, der heute Universitätsprofessor in München ist, besuchte in Moskau eine Schule mit Schwerpunkt Mathematik. Dort musste er sehr unter einem antisemitischen Prüfer leiden, der dem Prüfungskomitee für die anschließende Hochschule angehörte. Er hat ihn regelrecht gequält, nur um ihn nicht weiterkommen zu lassen. Außerdem drohte uns Jungs ja das russische Militär.

Alles Gründe, weshalb meine Eltern schließlich diesen Antragsmarathon zur Ausreise auf sich nahmen – der auch dadurch erschwert wurde, dass sowohl mein Opa als auch meine Mutter in Moskau ihrer Berufe wegen in »geheim« gehaltene Akten eines wissenschaftlichen Instituts für Luftfahrt Einblick hatten.

Und die Gemeinschaftsunterkunft: ein Haus, viele Gänge, viele Türen, Stahlbetten, blau-weiß karierte Bettwäsche, andere Kontingentflüchtlinge.

Fünf Jahre lang hielt man uns in Wartestellung. Irgendwann klappte es jedenfalls mit der Ausreise – aber auch nur, weil sich eine Menschenrechtsorganisation für uns eingesetzt hatte. Bei mir herrschte damals nichts anderes als pure Euphorie. Ich wollte raus, etwas von der Welt sehen. Und der Westen, Deutschland, war in meinen kindlichen Augen sowieso toll und sehr reich.

1996 kamen wir in Deutschland an. Da war ich 13 Jahre alt. Kein wirklich leichtes Alter. Auf uns wartete bereits ein Onkel in Freiburg. Und die Gemeinschaftsunterkunft: ein Haus, viele Gänge, viele Türen, Stahlbetten, blau-weiß karierte Bettwäsche, andere Kontingentflüchtlinge. Für mich war es in Ordnung. Mal ist ein Fenster eingeschlagen, mal ein Hakenkreuz auf die Außenwand gesprayt worden; ich nahm das hin. So etwas passiert.

TÜRKISCH Die Schulzeit war am Anfang natürlich hart. Ich war mitten in der Pubertät, ich verstand so gut wie nichts. Die paar Worte Deutsch, die ich aus Kriegsfilmen und während eines knappen Sprachkurses gelernt hatte, brachten mich nicht weit. Ich war sprachlos.

Ich wurde erst einmal einer internationalen Klasse zugeteilt und lernte dort vor allem – Türkisch. Na ja, Deutsch habe ich dann schon auch gelernt, durchs Fernsehen und dank Songs.

Meine Scheu, vor Menschen aufzutreten, ist jetzt wirklich Vergangenheit.

Irgendwann hat es für die internationale Klasse im Gymnasium gereicht. In allen naturwissenschaftlichen Fächern sowie in Mathe war ich durch die Steilvorlage in Moskau ohnehin schon recht weit. Gerade einmal ein Jahr in Deutschland, kam ich in die reguläre achte Klasse eines Gymnasiums – was sich dann aber vielleicht doch als ein wenig zu ambitioniert herausgestellt hat: all diese Nebenfächer, die deutsche Literatur, Goethe, Schiller ...

Hinzu kam, dass mein Englisch, das ohnehin nicht wirklich toll war, mir plötzlich abhandenkam. Es war völlig weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Von der deutschen Sprache total verdrängt. Ich habe die Note 6 bekommen und musste die Klasse wiederholen. Gut so! Weil ich auf diesem Weg Mitschüler losgeworden bin, die mich in der alten Klasse wirklich nicht gut behandelt hatten.

CHANCE Sie haben mich gemobbt und ausgegrenzt. Ich habe mich daraufhin völlig zurückgezogen, mich in mir selbst vergraben, wurde schweigsam, schüchtern und einsam. Verrückt, wenn man bedenkt, dass ich damals unter all den anderen »Außenseitern« in der Gemeinschaftsunterkunft oder der internationalen Klasse immer als einer galt, der alle zum Lachen bringen konnte.

Diese Zeit des totalen Rückzugs war sehr prägend für mich, sehr einschneidend. Ich habe Jahre gebraucht, um mich davon wieder ganz zu erholen. Die neue achte Klasse begriff ich als zweite Chance. Außerdem bin ich ganz schön gewachsen! War ich, als wir Moskau verlassen haben, noch einen Kopf kleiner als mein Bruder, überragte ich ihn nun um einen Kopf.

Nach dem Abitur stand mir die Welt offen. Meine Eltern ließen mir völlige Freiheit. Mal dachte ich an Psychologie, dann an ein Musikstudium, weil ich ganz gut Saxofon spielte, dann wollte ich Übersetzer werden. Schließlich entschied ich mich erst einmal für ein Praktikum, und zwar als Kameramann beim Regionalfernsehen – erst in Freiburg, dann in Hamburg, schließlich in München, einer Stadt, die mir schnell zusagte. An eine Filmhochschule habe ich mich danach noch nicht herangetraut.

Vergangenes Jahr stand ich für Emanuel Rotsteins The Invisible Line – Die Geschichte der Welle hinter der Kamera.

Stattdessen schrieb ich mich an der Uni Erlangen-Nürnberg für Theater- und Medienwissenschaften ein. Jetzt bekam ich Einblick in die Filmhistorie, die Filmtheorie, konnte meinen ersten Kurzfilm drehen.

Nach zwei Jahren wechselte ich an eine Fachhochschule in den Studiengang Mediendesign mit Schwerpunkt Film. Meine Mappe hatte denen dort zugesagt, und ich war aufgenommen worden. Alles, was irgendwie möglich war, probierte ich aus.

Ich ruhte mich nie auf irgendetwas aus, war voller Energie und brachte ja zudem und zu meinem großen Vorteil bereits Vorkenntnisse als Kameramann mit.

WELLE Auf diese Weise wirklich gut aufgestellt, bin ich nach dem Studium wieder nach München zurückgekehrt. Hier arbeite ich seitdem als Kameramann mit Schwerpunkt Dokumentarfilm. So stand ich etwa vergangenes Jahr für Emanuel Rotsteins The Invisible Line – Die Geschichte der Welle hinter der Kamera. Für den Film suchten wir die Menschen auf, die damals als Schüler oder Schülerinnen in den USA bei dem berühmten »Welle«-Experiment des Lehrers Ron Jones mitgewirkt haben.

Während der vielen intimen Interviews, die Emanuel dafür geführt hat, musste ich gutes Licht kreieren, sehr konzentriert dabei sein, ohne jemanden abzulenken. Zu den Ereignissen musste ich die passenden cineastischen Bilder finden.

Natürlich mache ich auch Werbe- und Industriefilme. Inhaltlich ist das meistens nicht so spannend, finanziell aber schon. Und ich lehre an der TH Nürnberg und auch in München bei der Bayerischen Akademie für Fernsehen und Digitale Medien.

Meine Scheu, vor Menschen aufzutreten, ist jetzt wirklich Vergangenheit. Große Lust hätte ich auch einmal auf einen Spielfilm. Das ist das Einzige, was mir in meinem Repertoire noch fehlt. Das Judentum entdecke ich weiterhin. Tagtäglich. In unserem Haus. Ob in dem einen oder dem anderen Stockwerk unseres jüdischen Mikrokosmos.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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