Heiligendamm

Zuflucht an der Ostsee

Erstaufnahmestelle in Moldawien: Von hier aus ging es weiter nach Deutschland. Foto: Diana Reizman

Plötzlich hörte es gar nicht mehr auf zu klingeln. »Unser Telefon war zu einer Hotline geworden«, sagt Diana Reizman. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, wollten ihr Mann Avi Toubiana und sie jüdischen Flüchtlingen helfen. Der Plan war es, einen Bus in die moldawische Hauptstadt Chisinau zu schicken, um dort gestrandete Jüdinnen und Juden nach Deutschland zu holen.

Drei Wochen später waren es bereits zehn Busse, mit denen insgesamt etwa 500 Menschen ausreisen konnten. Das Ehepaar aus Hannover versteht sich als eine Art Knotenpunkt der jüdischen Flüchtlingshilfe in Deutschland. Von einem normalen Alltag kann bei den beiden keine Rede mehr sein. Der Anstoß für diese Hilfsaktion kam vom Immobilienunternehmer Anno August Jagdfeld. Der Erhalt jüdischen Lebens sei ihm schon lange ein Anliegen gewesen, sagt Jagdfeld.

hotelanlage In seiner Hotelanlage in Heiligendamm an der Ostsee hatte der Hotelier noch einige Apartments frei. Um darin geflohene jüdische Familien unterzubringen, wandte er sich an Avi Toubiana, Geschäftsführer beim Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. Dieser sagte sofort zu, den Bus zu organisieren, der die Flüchtlinge aus Moldawien nach Heiligendamm bringen sollte. »Doch wie genau man so etwas angeht, davon hatte ich anfangs keine Ahnung«, sagt Toubiana.

Der Stress der vergangenen Wochen sitzt ihm immer noch in den Knochen: »Finden Sie mal ein Busunternehmen in Moldawien!« Dennoch ließ er nichts unversucht, und irgendwann hatte er tatsächlich das Angebot eines lokalen Unternehmens, eine Gruppe Flüchtlinge nach Deutschland zu bringen. Seine Frau spricht im Gegensatz zu ihm Russisch, und so beschlossen die beiden, dass sie nach Chisinau reisen sollte, um die Organisation vor Ort zu übernehmen, während er einen Teil von Deutschland aus koordinierte.

Doch in Moldawien war die Situation zunächst anders als erwartet: Die wenigen jüdischen Flüchtlinge, die zu diesem Zeitpunkt dort gelandet waren, wollten meist nicht nach Deutschland, hatten Vorbehalte gegen das Land, das sie noch stark mit dem Nationalsozialismus assoziieren.

angst In den folgenden Tagen kamen immer mehr fliehende Ukrainer in Chisinau an, und bald gab es genügend Menschen, die bereit waren, in den Bus nach Deutschland zu steigen. Als die Gruppe nach fast zwei Tagen um fünf Uhr morgens in Heiligendamm ankam, waren die Sorgen nach wie vor groß. »Sie hatten riesige Angst vor der ärztlichen Untersuchung und dachten, wir wollten ihnen etwas antun«, erzählt Toubiana. Aber als die Sonne langsam aufging und sie merkten, an was für einem außergewöhnlichen Ort sie sich befanden, »kam das Lächeln der Leute, und sie wussten, dass sie in Sicherheit waren«.

Schnell sprach sich herum, dass die Helfer aus Deutschland tatsächlich nur das Beste im Sinn haben. »Jetzt rufen gefühlt 100 Menschen pro Stunde an«, sagt Diana Reizman. Aus Moldawien kommen Bitten, Flüchtlinge abzuholen, aus Deutschland Angebote, sie aufzunehmen. Es war offensichtlich, dass es bei einem Bus nicht bleiben konnte. Jagdfeld gab grünes Licht – er könne weitere Unterkünfte stellen –, und das Geld für weitere Busse kam vom Jüdischen Landesverband Niedersachsen.

Nun sollen Geflüchtete auch direkt aus Odessa abgeholt werden. Alle an der Hilfsaktion Beteiligten sind in den vergangenen Wochen deutlich weiter gegangen, als sie sich das vorher hatten vorstellen können. Aber für Avi Toubiana und Diana Reizman steht fest: »Wir müssen weiterhelfen, die Menschen in der Ukraine brauchen unsere Unterstützung.«

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